17.05.2022
Wie gehen Polen, Ungarn und Tschechien mit Migration um?
Lunch-Talk des Mercator Forums Migration und Demokratie zur Thematik der Flucht aus der Ukraine
Der Krieg gegen die Ukraine zwingt Millionen Menschen zur Flucht aus ihrem Heimatland. Ein Großteil der Geflüchteten kommt genau in den Staaten unter, die bisher die restriktivste Position in der Migrationspolitik der EU vertreten haben: den Visegrád-Staaten. Über 2,8 Millionen ukrainische Geflüchtete haben in Polen Zuflucht gefunden und mehrere Hunderttausende in Tschechien und Ungarn. Bis vor Kurzem lehnten diese Staaten die Aufnahme von Geflüchteten ab. Wie gehen sie nun mit der Migration um? Haben sie die nötigen Kapazitäten zur Aufnahme der Geflüchteten? Sind Bevölkerung und Politik willens, den Menschen Schutz zu gewähren? Diesen Fragen widmete sich Forum MIDEM am 31. März im Lunch Talk »An der Grenze der Belastung – Flucht aus der Ukraine nach Polen, Ungarn und Tschechien«. Die Länderexpertinnen Marta Kozłowska, Jenna Althoff und Dr. Kristina Chmelar stellten die Situation in Polen, Ungarn und Tschechien vor und beantworteten Fragen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Den drei diskutierten Staaten ist eins gemein: die hohe Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung und der politischen Parteien. Umfragen zeigen, dass ein überwältigender Anteil der Menschen in diesen Staaten die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten befürwortet. Auch die politischen Parteien, mit Ausnahme rechtsextremer Parteien wie der Konfederacja Wolność i Niepodległość in Polen, unterstützen die Aufnahme.
Unterschiede gibt es jedoch in Hinsicht darauf, ob sich die Staaten als Aufnahme- oder als Durchreisestaat verstehen. Während Polen und Tschechien die Unterbringung und Integration der Geflüchteten auf sich nehmen, sieht sich Ungarn primär als Transitland. Staatliche Aufnahmekapazitäten für Geflüchtete werden in Ungarn seit Jahren systematisch abgebaut. Auch der Ukrainekrieg hat die Regierung nicht dazu veranlasst, diese Tendenz umzukehren. Die geringen Unterbringungsmöglichkeiten, die bestehen, werden von privaten und vor allem kirchlichen Akteurinnen und Akteuren bereitgestellt. Der Staat unterstützt die ukrainischen Migrantinnen und Migranten primär, indem er ihnen die Weiterreise zum Beispiel mit Solidaritätsfahrscheinen des staatlichen Bahnunternehmens erleichtert.
Dass Polen und Tschechien größere Bereitschaft zeigen, die Geflüchteten längerfristig aufzunehmen, könnte auch damit zusammenhängen, dass in beiden Staaten schon vor Beginn des Krieges eine große ukrainische Diaspora bestand. Sie haben somit bereits Erfahrungen mit der Aufnahme und Integration ukrainischer Migrantinnen und Migranten.
Vor allem Tschechien definiert sich schon seit den 90er-Jahren als Einwanderungsland mit einer etablierten Migrations- und Integrationspolitik. Somit war zu Beginn des Kriegs gegen die Ukraine bereits die nötige Infrastruktur vorhanden, um die Geflüchteten unterzubringen. Die staatlich organisierte Unterbringung und Integration Minderjähriger in das Bildungssystem lief vergleichsweise problemlos. Langsam stößt das Land jedoch an seine Kapazitätsgrenzen. Bildungs- und Gesundheitssystem sind prekär ausgestattet und können die zusätzliche Belastung durch Migration kaum aushalten. Für die Unterbringung der Neuankömmlinge muss zunehmend auf private Haushalte zurückgegriffen werden. Um diesen Problemen zu begegnen, werden über eine Umverteilung innerhalb Tschechiens diskutiert und mobile Unterbringungseinheiten von der EU bestellt.
Während die Aufnahme der Geflüchteten in Tschechien bisher größtenteils über staatliche Strukturen geregelt werden konnte, wird sie in Polen meist von privaten Akteurinnen und Akteuren getragen. Polen verfügt im Gegensatz zu Tschechien über keine etablierte Flucht- und Migrationspolitik. Um die Migration staatlich zu regulieren, fehlen nötige Strukturen und Ressourcen. Statt auf transparente Verfahren und klare Zuständigkeiten zurückgreifen zu können, müssen Ad-hoc-Lösungen geschaffen werden. Die Unterbringung der ukrainischen Geflüchteten wird in Polen meist privat über Facebookgruppen organisiert. Der Zugang zum Arbeitsmarkt wird den Migrantinnen und Migranten dadurch erschwert, dass es keine etablierten Verfahren zur Anerkennung von Qualifikationen gibt. Zudem gibt es kein zentrales Register für Migrantinnen und Migranten, sodass der Staat keinen Überblick über die Migration hat und kaum ermitteln kann, wie viele Ressourcen für ihre Versorgung benötigt werden. Trotz der Schwierigkeiten, die Tschechien, Polen und zu einem geringerem Grad auch Ungarn mit der Aufnahme ukrainischer Geflüchteter haben, sind diese Staaten weiterhin gegen eine von der EU organisierte Umverteilung. Stattdessen hoffen sie auf eine natürliche Umverteilung in dem Sinne, dass Migrantinnen und Migranten selbst merken, dass die Kapazitäten begrenzt sind und in andere Staaten weiterreisen. Die Visegrád-Staaten zeigen also im Kontext des Ukrainekrieges eine deutlich größere Bereitschaft, Geflüchtete zu versorgen und aufzunehmen, als noch 2015. Diese Bereitschaft schlägt sich jedoch nicht in einem ausgeprägten Willen zur Lösung von Migrationsfragen auf der EU-Ebene nieder. Ebenso bleibt abzuwarten, ob die aktuellen Erfahrungen mit Migration Polen und Ungarn dazu veranlassen werden, ihre Aufnahmekapazitäten für Migration auszubauen oder ob sie weiterhin auf Ad-hoc-Lösungen, Weiterreisen und privates Engagement setzen werden.
Wie Polen, Ungarn und Tschechien mit der Fluchtmigration umgehen und welche politischen Debatten zu diesem Thema geführt werden, stellen jüngst erschienene Publikationen vom Forum MIDEM vor.
Rahel Marie Ladwig/UJ
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 9/2022 vom 17. Mai 2022 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.