09.02.2022
Gute Fragen finden. Dresden und der 13.Februar.
Gedanken, Anregungen und Perspektiven der Filmemacherin, Soziologin und Historikerin Barbara Lubich zu Erinnerungskultur und Gedenken anlässlich des 13. Februar in Dresden.
Ein vergessener Ort gerät aktuell ins Bewusstsein der Stadt: Das sog. ‚Judenlager Hellerberg‘. Den Zugang zum Gelände an der vielbefahrenen Radeburger Straße auf dem Weg zur Autobahnauffahrt erreichten wir 2011 bei einem kurzen Spaziergang an rasenden LKWs vorbei. Im verwilderten Wäldchen, wo einst das Lager war, interviewten wir Hildegart Stellmacher, Aktivistin der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit: „Ich kann das verstehen“, sagte sie in die Kamera, „so eine Erinnerung drückt.“ Sie bezog sich auf die Erinnerung an die zwischen 1942 und 1943 dort untergebrachten jüdischen Zwangsarbeiter:innen. Von den 293 Menschen überlebten nur zehn den Holocaust. Und sie bezog sich auf das „kommunikative Beschweigen“ der Nachkriegszeit, das jenes bereits von den Nationalsozialisten erfolgreich während des Kriegs eingeführte Narrativ der von britischen und amerikanischen ‚Luftgangstern‘ bombardierten unschuldigen Stadt auf Dauer stellte.
In den 1960er und 1970er Jahren war das offizielle Gedenken an die Bombardierung Dresdens nicht mehr ganz so präsent. Erst durch eine pazifistische Initiative junger Oppositioneller gegen die Militarisierung der DDR-Gesellschaft wurde es 1983 wiederbelebt. Das an der Frauenkirche initiierte Kerzen-Ritual wurde zum Symbol des Friedens. Aus der gesamten DDR reisten Kriegsgegner:innen an, um daran teilzunehmen. Allerdings dekontextualisierte auch dieses Ritual ungewollt den Blick auf die Bombardierung Dresdens und bestätigte die Darstellung der Stadt als Opfer des Krieges. Doch 1987 entstand aus der Friedensbewegung die Idee für eine Ausstellung zu Dresden in Zeiten des Nationalsozialismus in der Kreuzkirche. Die Initiatorinnen des ersten Stillen Gedenkens waren auch dabei und nutzten dafür Bilder aus den eigenen Familienalben. Die Friedensbewegung hatte vier Jahre gebraucht, um „aus der Geschichte zu lernen“. Die Stadt Dresden sollte länger brauchen. Und bald waren auch die ersten Toten gefallen, die der neuaufkommende Rechtsradikalismus in der DDR forderte.
Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass in Dresden anlässlich des 13. Februars die größten Neonazi-Aufmärsche in Europas jüngster Geschichte stattfinden konnten, wandte sich unser Dokumentarfilm Come Together. Dresden und der 13. Februar dem Mythos Dresden zu. Er endete in Dresden-Nickern, wo damals (2011) rechtsextreme Aktivist:innen an einem kleinen Denkmal des Bombenangriffs einen kleinen Fackelmarsch veranstalteten. Heute bemüht sich die Stadt offiziell um die Umgestaltung von Orten umkämpfter Erinnerung. Der Heidefriedhof und sogar jene kleine Stele in Nickern sollen Lernorte werden. Und Orte der Erinnerung an Judenverfolgung und an Zwangsarbeit sollen ebenso neue Lerngelegenheiten im Stadtbild bieten.
Aber was soll dort gelernt werden? Welche Sichtweisen jenseits von Opfer- und Täterperspektiven eröffnen sich, wenn es darum geht, das Erinnern für eine zeitgenössische post-migrantische Gesellschaft zu gestalten? Und dies im Osten Deutschlands?
2011 entstand eine Arbeit des britischen Architekten, Malers und Tänzers Saranjit Birdi zur Bombardierung Coventrys durch deutsches Militär: Bombed – A Moonlight Sonata. Für diese Aufführung, die Live-Malerei, Interview-Material von Überlebenden des ,blitz’ und urban dance verknüpfte, wünschte sich der Künstler eine Fortsetzung in Dresden. 2017 war es soweit: Birdi erhielt einen Artist International Development Award des British Council, um Dresden zu besuchen und zu recherchieren. Er interviewte Überlebende des 13. Februar und lud drei Tänzer:innen aus Dresden ein, um das ursprüngliche Performer-Trio aus England zu ergänzen1. Im Saal des Zentralwerk Dresden betraten die Bühne er selbst, zwei seiner Tanzkollegen, Christopher Foster und Winston Nelson, aus der Birminghamer Clubszene und die jüngere Dresdner Künstler:innen Cindy Hammer (go plastic), Alexander Miller (The Saxonz) und Rika Yotsumoto.
Der Aufführung im Rahmen des vom Societaetstheater organisierten Festivals Szene Europa folgte ein Gespräch, in dem Birdi über die eigene Motivation sprach: „Der Krieg kommt und geht und irgendwann ist alles normal.“ Konflikt sei ein wiederkehrendes Thema in seiner künstlerischen Arbeit. Geboren sei er in der Sikh Community, einer Religionsgemeinschaft, die im Norden Indiens seit dem 15. Jahrhundert als Alternative zum verfeindeten Islam und Hinduismus entstanden war. Das Ethos der Sikh ist ein humanistischer Holismus mit militanter Ästhetik.
Birdi ging auf die Hintergründe dieses scheinbaren Widerspruchs ein: Der zehnte Sikh-Guru, Guru Govind, der als Märtyrer gefallen sei, hätte gesagt: „Wenn du alles getan hast, um etwas Falsches zu korrigieren, und es dir trotzdem nicht gelingt, dann ist es in Ordnung, sich zu verteidigen.“ Im Sikhismus gehe es nicht darum, die Sikh zu schützen, sondern um etwas Grundsätzlicheres: „Wenn jemand schikaniert und unterdrückt wird, ist es unsere Pflicht, aufzustehen und ihn zu verteidigen.“
Birdi führte das nicht weiter aus, aber im Gespräch wurde ersichtlich, dass er aus einer opferorientierten Haltung den Willen entwickelt hatte, den erinnerungskulturellen Diskurs mitzugestalten. Als Asian war es für Saranjit Birdi im England der 1970er und 1980er Jahre schwer, überhaupt Night Clubs zu betreten. Am Wochenende sogar unmöglich. Christopher Foster, Grundschullehrer und Tänzer in Birdis Performance, ergänzte dessen Betrachtung: In Großbritannien sei die Situation heutzutage besser, auch wenn der Rassismus nicht verschwunden sei.
In der Betrachtung der Vergangenheit und der Gegenwart sei die Frage wichtig: Wohin ist das Spotlight gerichtet? Man sage oft zum Beispiel, dass in den Grundschulen zu wenige Männer Lehrkräfte seien, anstatt zu sagen, dass es welche gebe. Wirkt das motivierend für männliche Grundschullehrer? Oder ist es eher kontraproduktiv, den Sonderfall zu betonen? Eine ständige Rhetorik der Negativität verfehle das Ziel: Anstatt eine nicht ausreichend vertretene Gruppe von Menschen sichtbar zu machen, würde diese Gruppe vielmehr klein gemacht. Als Person of Color sprach Christopher einen zentralen Punkt an: Damit sich Opferpositionen in unseren Gesellschaften nicht über Generationen perpetuieren, braucht es den Blick auf die Ermächtigungsmomente jedes Einzelnen. Durch eine zu starke Betonung von Opferrollen wird verhindert, dass sich ein positiver Identitätsauftrag beim Menschen einstellt.
Dresden hat heute ein lebendiges jüdisches Leben. Es ist ein Wunsch der Dresdner Jüd:innen, dass das Judentum nicht auf die Erinnerung an den Holocaust reduziert wird, sondern im Alltag verankert ist (www.blog-stadtmuseum-dresden.de/valentinamarcenaro/). Andere Bevölkerungsgruppen wie die Sinti und Roma und die Queer Community haben wiederum das Bedürfnis, die Erinnerung an die Verfolgung ihrer Vorfahren zu pflegen und im kollektiven Gedächtnis verankert zu wissen. Es gibt viele ,Baustellen’, welche die lokale Erinnerungskultur parallel beschäftigen, während das Verdrängen der nationalsozialistischen Vergangenheit in dieser Stadt nachlässt.
BBei der Kundgebung der Rechtsextremen am 13. Februar 2009 verschafften sich Demonstrant:innen durch Parolen und Chöre Gehör, indem sie eine Verwandtschaft ihrer Bewegung mit jener behaupteten, die mit friedlichen Montagsdemonstrationen zum Umbruch von 1989 geführt hatte. „Es geht um die Wiederherstellung der Demokratie“, sagten dann am 13. Februar 2011 zwei betagte Männer in mein Mikrophon, eingereiht in eine Demonstration der Rechtsextremen am Dresdner Hauptbahnhof. Noch war von PEGIDA nicht die Rede, aber die Straße am 13. Februar war, wie zwei Jahre später, einfach eine Bühne für den Drang von Einigen, sichtbar zu sein, ein politisches Selbstbewusstsein zu feiern und zwar gegen das demokratische „Establishment“.
Solche Äußerungen eines sozialen Unbehagens werden auch als Folge der ,Wende‘ betrachtet. Wie Aleida Assmann in ihrem Buch Das Unbehagen der Erinnerungskultur (2016) erörtert, zeige sich in der Erinnerung an die DDR das gespaltene Selbstbild Deutschlands. Das Recht der Opfer auf gesellschaftliche Anerkennung, Information und Beratung habe zwar in den Gedenkstätten des DDR-Staatsterrors einen Platz, aber jenseits der ehemaligen Grenzen habe die Opfergeschichte der DDR-Bürger:innen noch nicht den Status einer geteilten Erinnerung. Die Täter:innenperspektive bleibe anonym und die Opferperspektive werde privatisiert. Nur die Friedliche Revolution habe einen Platz im geteilten Gedächtnis (Assmann 2016: 121). Während die auf Vergangenheitsbewahrung orientierte Kultur der Erinnerung an den Nationalsozialismus zur Verantwortungsübernahme auffordere, sehe der Ansatz einer Vergangenheitsbewältigung, wie sie für den Umgang mit der DDR-Geschichte hierzulande umgesetzt worden sei, keine Memorialisierung vor. Die verdrängte Gewaltgeschichte solle verarbeitet werden, um gemeinsam in die Zukunft zu gehen. Assmann weist damit auf eine Asymmetrie im deutsch-deutschen Erinnerungsdiskurs hin. Von daher plädiert sie dafür, die DDR-Geschichte aus dem Erfahrungsgedächtnis ins nationale bzw. europäische Gedächtnis zu überführen.
Anerkennung von Traumata, Wiederaufbau von Vertrauen und Zuhören, Einbezug neuer Sichtweisen – das sind die Ziele einer konstruktiven Erinnerungsarbeit.
Aber wie funktioniert Erinnerung als Begegnungspraxis?
Um Übung im Perspektivwechsel in unserer Gesellschaft zu ermöglichen, reicht es oft nicht, Gesprächsmöglichkeiten zu bieten, denn die Situationen selbst, in denen Austausch stattfindet, sind zumeist so geformt, dass der Gesprächsverlauf nur begrenzte Möglichkeiten für Variationen, für die Entdeckung von partikularen Perspektiven bietet. Diese werden etwa aufgrund einer selbstwahrgenommen Irrelevanz der eigenen Stimme gar nicht erst geäußert.
Künstler:innen wie Dana Caspersen konzipieren deshalb Dialogformate, in denen die Menschen sich austauschen können, und zwar in Situationen, in denen andere Regeln gelten als üblich. Auch in der Demokratiebildung werden neue Methoden gesucht: Um Versöhnung in Konfliktgebieten zu ermöglichen, verfolgt Yariv Lapid, der Direktor des William Levine Family Institute for Holocaust Education am United States Holocaust Memorial Museum, den Ansatz, Fragen zu stellen, zuzuhören, ohne schnelle Lösungen zu erwarten. Wenn Menschen mit ihren je eigenen Sichtweisen und Ängsten gesehen und gehört werden, können sie ein Selbstwertgefühl entwickeln, das ihnen ermöglicht, sich ebenfalls für die anderen zu interessieren, anstatt in ein permanentes Spiel der gegenseitigen Abgrenzung und Positionierung verfallen zu müssen. So reduziert sich das Konfliktpotential von Menschen und Situationen.
Die Beschäftigung mit der Vergangenheit, mit Situationen, auf die ein aktiver Rückgriff nicht mehr möglich ist, kann Empathie stärken. Und das tut sie am besten, wenn sie es schafft, anstatt des empörten Rückblicks und des abwehrenden Nicht-Nachvollziehen-Könnens den neugierigen Blick für die verschiedenen Motivationen und Identitäten jedes Einzelnen zu fördern. Es geht nicht darum, Handeln historisch zu rechtfertigen, sondern darum, den Blick für die Frage der Verantwortung frei zu machen. Schließlich wissen wir nicht, wer wir in der Vergangenheit gewesen wären, aber in der Gegenwart können wir Orientierung gebrauchen.
Über die Autorin
Dr. Barbara Lubich ist eine italienische Filmemacherin. Sie studierte an der TU Dresden und der Universität Trento Soziologie (Doppeldiplomstudiengang) und promovierte in Neue und Neueste Geschichte an der Goethe Universität Frankfurt am Main und Universität Trento. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der TU Dresden in Rahmen des europäischen Forschungsprojekts CRIC – Cultural Heritage and Identity after Conflict, als sie anfing, an dem Dokumentarfilm „Come Together. Dresden und der 13. Februar“ (hechtfilm 2012) zu arbeiten. Sie ist im Vorstand der Zentralwerk Kultur- und Wohngenossenschaft eG.
Fußnoten
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Als leitender Künstler schuf Birdi die Musik und das Bühnenbild als "Gesamtkunstwerk", in dem Malerei, Tanz, Musik und Dialog aufeinandertreffen - ein Kunstkonzept, das von seinen Studien der Bauhaus-Ideologie beeinflusst ist.