06.12.2023
Interview mit Prof. Daniel Leising: Machtmissbrauch in der Wissenschaft
Im Dezember befasst sich die TU Dresden in einem Universitätsforum mit Macht und Machtmissbrauch in der Wissenschaft. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Prof. Daniel Leising (Professur für Diagnostik und Intervention, Fakultät Psychologie) ist Mitglied im „Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft“ und erklärt im Interview, wie vielschichtig das Problem ist, was Machtmissbrauch begünstigt und wie man dagegen vorgehen kann.
Was ist „Macht“? Und was versteht man unter „Machtmissbrauch“?
Prof. Leising: Ich verwende selbst meistens die klassische Macht-Definition von Max Weber. Demnach hat man Macht in dem Ausmaß, in dem man in sozialen Beziehungen seinen Willen auch gegen Widerstände anderer durchsetzen kann, egal worauf diese Möglichkeit jeweils beruht. Ich finde das treffend und nützlich, weil man Macht eben auf ganz verschiedenen Wegen erlangen kann. Es gibt „offizielle“, verliehene Macht. Eine Professorin kann z.B. qua Amt relativ frei darüber entscheiden, wem sie eine Stelle gibt und wem nicht.
Aber es gibt auch informellere Formen. Als Professor hat man z.B. auch dadurch Macht, dass man „gut vernetzt ist“, also viele Kolleginnen und Kollegen persönlich kennt und von diesen respektiert und vielleicht auch gefürchtet wird. Solcher Status wird nicht verliehen, sondern den erarbeitet man sich. Und das Wissen darum kann beeinflussen, ob andere es wagen, einen zu verärgern oder zu enttäuschen – denn das könnte langfristig ihrer eigenen Karriere schaden.
Um zu ermessen, wie legitim eine Person mit ihrer vorhandenen Macht umgeht, würde ich immer die wahrscheinlichen Konsequenzen ihres Verhaltens für alle möglicherweise davon Betroffenen betrachten. Der Gebrauch von Macht wird ethisch umso problematischer, je mehr jemand dadurch seinen eigenen Nutzen – oder den Nutzen einer Gruppe, zu der er gehört – auf Kosten anderer mehrt, je unehrlicher die Mittel sind, die dabei Verwendung finden, und je dauerhafter die Konsequenzen für die Betroffenen sind. Das ist eine stark utilitaristisch geprägte Definition.
In welchen Formen tritt Machtmissbrauch im Wissenschaftsbetrieb bzw. an Universitäten auf?
Prof. Leising: Einerseits in denselben Formen wie in anderen Arbeitskontexten auch: Ausbeutung, Demütigungen, sexuelle Übergriffe, korrupter Umgang mit Geld. Es gibt aber auch ein paar speziellere Formen, die so eigentlich nur in der Wissenschaft vorkommen. Dazu gehört zum Beispiel der Diebstahl von Ideen oder die Blockade von Konkurrent:innen im Rahmen von Begutachtungsverfahren. Oder auch der Erwerb von Autorenschaften durch gegenseitige Gefälligkeiten oder einfach qua Machtposition. Der korrupte Umgang mit Autorenschaften hat inzwischen solche Ausmaße angenommen, dass sie als Indikator wissenschaftlicher Leistung eigentlich jede Aussagekraft verloren haben.
Eine weitere, aus meiner Sicht bisher zu wenig beachtete Form des akademischen Machtmissbrauchs ist das, was eine ehemalige deutsche Unirektorin einmal sehr treffend als „Schaufensterforschung“ beschrieben hat: Wenn ich teure Großprojekte durchführe und der Öffentlichkeit als etwas verkaufe, was in deren Interesse ist, während eigentlich klar ist, dass das wahrscheinlich keine relevanten Erkenntnisfortschritte erbringen wird, sondern eigentlich nur die eigene Drittmittelbilanz verbessert.
Welche Ursachen hat Machtmissbrauch?
Prof. Leising: Hier hilft aus meiner Sicht das klassisch-psychologische Konzept der Person-Umwelt-Interaktion ganz gut weiter. Wichtig ist zum einen, welche Spielräume es in der Organisation („Umwelt“) gibt, seine Macht unentdeckt und ungestraft zu missbrauchen, und wie sehr solcher Missbrauch sich lohnen könnte oder mit Risiken verbunden ist. Wenn man auf unredliche Art seine Publikationsliste verlängert, verbessert man z.B. die eigenen Karrierechancen sehr. Das lohnt sich also ziemlich sicher. Gleichzeitig ist die Gefahr, mit so etwas erwischt zu werden, bisher sehr klein. Wichtig ist andererseits aber auch die persönliche Integrität der handelnden Personen. Die Versuchung des Machtmissbrauchs könnte noch so groß sein – wenn alle involvierten Personen über ausreichende persönliche Integrität verfügten, gäbe es trotzdem keine Probleme. Umgekehrt müsste man sich sogar bei völlig korruptem Personal keine Sorgen machen, wenn die institutionellen Bedingungen das Ausleben der entsprechenden Neigungen unmöglich machten. Das Wissenschaftssystem ist aber leider alles andere als robust, sondern bietet große Spielräume und Anreize für unethisches Agieren. Und diese Spielräume werden auch durchaus genutzt, wie wir in letzter Zeit immer deutlicher erkennen müssen.
Inwiefern kann Machtmissbrauch vorgebeugt werden? Was braucht es aus Ihrer Sicht, um effektiv gegen Machtmissbrauch vorzugehen?
Prof. Leising: Wir brauchen eine gleichmäßigere Verteilung der Macht im System. Professorinnen und Professoren haben in Deutschland eine enorme Machtfülle, die sich rational nicht wirklich rechtfertigen lässt. Sie müssen deshalb einen Teil dieser Macht abgeben. Wenn man als Untergebener keine Angst mehr haben muss, dafür bestraft zu werden, dass man seine Meinung sagt oder auch nur seine tatsächlichen Beobachtungen benennt, würde es im Wissenschaftsbetrieb wahrscheinlich schon ein ganzes Stück ehrlicher zugehen. Außerdem brauchen wir besser funktionierende Aufsichts- und Sanktionsmechanismen. Funktionieren können die nur, wenn die zuständigen Stellen ausreichend Expertise, Ressourcen und Befugnisse haben, und außerdem von den jeweils betroffenen Institutionen unabhängig sind.
Was kann man tun, wenn man Zeuge von Machtmissbrauch wird oder selbst davon betroffen ist?
Prof. Leising: Wenig, denn dann ist man meist in einer ziemlich schwachen Position. Ich habe mittlerweile Dutzende Stories über teilweise haarsträubende Machtmissbräuche in der deutschen Wissenschaft gehört. Meine Schätzung, wie viel davon jemals sichtbar wird, liegt bei ein bis zwei Prozent. In allen anderen Fällen schweigen die Opfer und die Mitwisser eisern und oft jahrelang aus gut nachvollziehbarer Angst. Manchen kann man notdürftig helfen, indem man ihnen hilft, wenigstens die gröbsten Fehler im Umgang mit den Täter:innen zu vermeiden. Und auch emotionale Unterstützung wird oft schon für sich genommen als hilfreich erlebt. Missstände wirklich beseitigen, kann man so aber nicht. Am effektivsten werden wir Machtmissbrauch in der Wissenschaft dadurch bekämpfen, dass wir denjenigen, die aktuell die meiste Macht im System haben, einen Teil ihrer Macht und auch einen Teil unseres Vorschussvertrauens wegnehmen. Prävention dieser Art muss aus meiner Sicht das Hauptziel sein. Auch wenn wir uns das vielleicht anders wünschen würden: Nicht alle Wissenschaftler:innen sind auch integre Menschen. Und innerhalb schwacher Strukturen können mächtige Menschen, denen es an Integrität mangelt, immensen Schaden anrichten.