Eltern als Therapeuten (E@T)
Bisherige Untersuchungen zeigen, dass Internet-gestützte präventive Interventionen insbesondere bei jungen Frauen die bereits ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Essstörung aufweisen in der Reduktion bedeutsamer Risikofaktoren wirksam sind. Im Längsschnitt konnte gezeigt werden, dass diese Art der Intervention auch die Inzidenz für bulimische Essstörungen und Binge Eating Störungen in Hochrisikogruppen senkt. Es fehlen allerdings entsprechende Studien für Anorexia nervosa (AN), ebenso fehlen spezifischer auf die Risikofaktoren dieser schwerwiegenden Essstörung zugeschnittene präventive Maßnahmen.
Im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie sollten in einem ersten Schritt Mädchen mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklunng von AN anhand längsschnittlich bestätigter Risikofaktoren identifiziert werden. Den Eltern dieser Mädchen wurde dann die Teilnahme an einer Online-Intervention angeboten, die zentrale Symptome der AN reduzieren oder normalisieren bzw. die Inzidenzen von vollständig ausgeprägter oder subklinischer Anorexie zum Follow-up um 50% senkensollte .
Insgesamt 12.377 Screeningfragebögen wurden zwischen 2010 und 2013 in 86 Schulen in Sachsen ausgeteilt. 3.939 Mädchen und ihre Eltern nahmen am Screening teil, bei 473 (12%) von ihnen wurde ein erhöhtes Risiko für AN festgestellt und den Eltern Rückmeldung über den Risikostatus ihrer Töchter gegeben. 96 Familien waren bereit zur Teilnahme an der Vorbefragung, 66 Familien konnten auf die Interventions- und die Kontrollbedingung randomisiert werden, 43 nahmen an der Nachbefragung zum Ende der Intervention teil, 27 am letzten Nacherhebungszeitpunkt, 1 Jahr nach Beendigung der Intervention.
Im Hinblick auf die zentralen Symptome gestörten Essverhaltens gab es einen statistisch signifikanten Unterschied zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe in Bezug auf das zentrale Kriterium Gewicht (% ideales Körpergewicht). Probandinnen der Interventionsgruppe nahmen bis zum letzten Nacherhebungszeitpunkt mehr und schneller an Gewicht zu im Vergleich zu Probandinnen der Kontrollgruppe. Im Hinblick auf alle anderen zentralen Symptome gestörten Essverhaltens (exzessives Sporttreiben, Figur- und Gewichtssorgen, körperliche Unzufriedenheit, Schlankheitsstreben etc.) ergaben sich keine bedeutsamen Unterschied zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe, weder aus der Sicht der Kinder noch der Eltern.
Trotz hoher Verweigerungsraten und hoher Drop-out-Raten finden wir im Verlaufe der Studie einen signifikanten Effekt des prozentualen idealen Körpergewichts bei den Risikomädchen der Interventionsgruppe. Da Untergewicht oder bedeutsamer Gewichtsverlust in den letzten 6 Monaten bei allen Teilnehmerinnen als Einschlusskriterium gefordert war, stellt dies ein durchaus bedeutsames Ergebnis der Untersuchung dar, zumal die durchschnittliche Nutzung des Programms durch die Eltern sehr gering war. Dennoch scheint zumindest für die teilnehmenden Eltern bereits die geringe Nutzung einen Vorteil i.S. einer Steigerung des Gewichts der Töchter zu bringen, d.h. die Eltern nehmen hier u.U. tatsächlich mehr Einfluss auf eines der Risikomerkmale der Töchter.
Diesem Ergebnis stehen allerdings erhebliche „Kosten“ entgegen:
Die Stichprobe dürfte in Anbetracht der hohen Verweigerungs- und Drop-out-Raten als hochselektiv einzuschätzen zu sein. Möglicherweise haben in erster Linie Eltern am Programm teilgenommen, die besonders motiviert waren, bereits für potentielle Risikomerkmale der Töchter sensibilisiert waren bzw. deren Töchter auch bereits stärker beeinträchtigt waren. Im Gegensatz dazu beendeten die Eltern der Kontrollgruppe mit tendenziell stärker belasteten Töchtern die Studie auch eher vorzeitig.
Der Aufwand, der im Rahmen der Studie betrieben wurde, um Eltern von Risikomädchen zu erreichen ist immens und steht in starkem Kontrast zu den Effekten. Selbst für ein indiziertes Präventionsprogramm stehen die Kosten hier nicht mehr in angemessenem Verhältnis zu dem Nutzen, der mit dem Programm erzielt wird. Allerdings sind diese Erkenntnisse erst durch die jetzt abgeschlossene Studie deutlich geworden. Möglicherweise sind Eltern erst dann besser erreichbar für eine Intervention, wenn die Töchter bereits stärkere Symptome (z.B. noch ausgeprägterer Gewichtsverlust) oder das Vollbild einer Anorexia nervosa zeigen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann nur darüber spekuliert werden, inwieweit elternbasierte Interventionen, die unmittelbar im Frühstadium der Entstehung einer vollsyndromalen Anorexia nervosa ansetzen, erfolgreicher wären