Dec 15, 2020
Welchen Kräften ist unser Sonnensystem ausgesetzt?
Sergei A. Klioner
Wissenschaft, das bedeutet nur zu oft schwere, ja mühselige Arbeit über viele Jahre hinweg. Und manchmal, in ganz besonderen Momenten, wird diese Mühe belohnt. Genau das erlebt das Gaia-Team am Lohrmann-Observatorium der TU Dresden in diesen Tagen.
Als ich 1992 in Japan anfing, an einem Thema zu arbeiten, konnte ich nicht wissen, dass lange 28 Jahre vergehen werden, bevor die Arbeit zu der erfolgreichen Messung eines hochinteressanten Effektes führen wird.
Der Effekt, winzig klein, doch hochinteressant hat eine tiefe, ja fast philosophische Bedeutung: Es ist die Beschleunigung unseres Sonnensystems in Bezug auf das gesamte Universum. Spannend? Absolut! Aber zuerst die schwere Arbeit …
Seit 2000 beteiligt sich ein Team am Lohrmann-Observatorium der TU Dresden an der ESA-Astrometriemission Gaia. Astrometrie, der Bereich der Astronomie, welcher sich mit den Positionen und Geschwindigkeiten der Himmelskörper befasst, ist die Aufgabe des am 19. Dezember 2013 gestarteten Satelliten. Was Gaia absolut einzigartig macht, ist die Genauigkeit seiner Messungen: Im Idealfall beträgt diese nur wenige Mikrobogensekunden, was beispielsweise dem Durchmesser einer 1-Euro-Münze auf dem Mond entspricht.
Rund 450 Astronomen und Softwareingenieure verarbeiten diese Beobachtungen weiter. Sie nutzen viele Großrechner in ganz Europa, um das System von 1000 Milliarden gekoppelten Gleichungen zu lösen, woraus dann ein Sternkatalog erstellt wird. Der neue dritte Gaia-Katalog ist nun seit dem 3. Dezember für die Öffentlichkeit freigegeben. Mit Daten zu zirka 1,8 Milliarden Himmelsquellen ist er dabei größer und genauer als seine beiden Vorgänger.
Mit den in über acht Millionen CPU-Stunden allein auf dem Hochleistungsrechner der TUD produzierten Resultaten hatte das Gaia-Team in Dresden entscheidenden Anteil am neuen Katalog. Darüber hinaus ist das Dresdner Team für die relativistische Modellierung der Beobachtungen, Tests der Relativitätstheorie, die Synchronisation von Gaias Atomuhren und für die Suche nach Quasaren in den Gaia-Katalogen verantwortlich.
Und diese letzte Aufgabe führt uns zurück zur Beschleunigung des Sonnensystems. In der Astronomie ist schon länger bekannt, dass eine solche Beschleunigung zu einer langsamen scheinbaren Verschiebung aller Himmelsobjekte führt. Der Effekt, welcher sich dann als gemeinsame Verzerrung in den gemessenen Bewegungen zeigt, wird jedoch bei nahen Sternen von ihren eigenen, komplexen Bewegungen vollständig überdeckt.
Hier kommen die oben genannten Quasare ins Spiel, welche aufgrund ihrer riesigen Entfernung als nahezu unbeweglich erscheinen und in der Astronomie als Referenzpunkte am Himmel genutzt werden. 1,6 Millionen dieser Quasare enthält das neue Gaia-Himmelsreferenzsystem, welches in Dresden 2020 produziert wurde und der im Moment größte und genaueste Quasar-Katalog ist. Die von Gaia beobachteten Quasare weisen eindeutig und zum ersten Mal in der Geschichte der optischen Astronomie das von der Beschleunigung erwartete Bewegungsmuster auf. Laut der von der Dresdner Gaia-Gruppe geleiteten Fachpublikation beträgt die Beschleunigung des Sonnensystems 0,23 Nanometer pro Quadratsekunde und ist leicht am Zentrum unserer Galaxie vorbei gerichtet. Das Ergebnis ist wissenschaftlich sehr wichtig und ein überzeugender Beweis der Güte der Daten. Die Messung zeigt eine gute Übereinstimmung mit der theoretischen Erwartung und liefert wichtige Informationen über die Bewegung des Sonnensystems im Gravitationsfeld unserer Galaxie.
Wie sieht die Zukunft aus? Gaia beobachtet immer noch, im Schnitt drei Millionen Sterne pro Stunde. Dem Instrument geht es bestens und die Messungen sollen bis 2025 laufen. Es wird erwartet, dass diese zusätzlichen Daten die Genauigkeit der Abschätzung noch einmal um einen Faktor zehn verbessern werden und weitere spannende Details über die Kräfte, welchen unser Sonnensystem ausgesetzt ist, verraten.
Der Autor Prof. Sergei A. Klioner leitet die Arbeitsgruppe Astronomie/Lohrmann-Observatorium am Institut für Planetare Geodäsie der Fachrichtung Geowissenschaften
(Fakultät Umweltwissenschaften).