Diagnostik für Inklusion
“Diagnostik ist eine allen pädagogischen Handlungen immanente Erkenntnistätigkeit zur Gestaltung und Begleitung institutioneller und außerinstitutioneller Prozesse der Entwicklung, des Lernens, der Erziehung und Bildung auch unter erschwerten Bedingungen” (Ricken, Schuck 2011: 110).
Das Zitat umreißt eine Bandbreite an Prozessen, die im Rahmen diagnostischer Tätigkeiten Beachtung finden müssen. Was wird bei der pädagogischen Diagnostik konkret in den Blick genommen? Laut Ziemen (2016) umreißt pädagogische Diagnostik
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“Kompetenzen (Zuständigkeiten, Befugnisse) und Lernausgangslagen resp. die „Zone der aktuellen Entwicklung“ (Vygotski 1987) zu erfassen,
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Handlungs- und Verhaltensweisen zu verstehen und zu erklären,
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„kulturelles und soziales Kapital“ (Bourdieu 1983) zu erkennen,
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Veränderungen im Denken, Wahrnehmen, Handeln zu erfassen;
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Möglichkeitsräume für Lernen und Entwicklung zu schaffen;
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Lernen und Entwicklung zu begleiten;
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Aussagen über den jetzigen Zeitpunkt und den Möglichkeitsraum für Entwicklung zu treffen (Potenziale).”
Hier wird deutlich, dass im Rahmen von diagnostischem Handeln Pädagog*innen sowohl einen Blick in die Vergangenheit von Lernenden werfen als auch Hypothesen für die Zukunft formulieren. In diesen Zeitdimensionen müssen außerschulische und schulinterne Aspekte mit einbezogen werden, um schließlich förderliche Bedingungen für Lernprozesse zu schaffen und den Prozess des Lernens zu begleiten. Diagnostik in der Schule meint also nicht nur die Auswertung von Tests oder anderweitigen Leistungserhebungen, sondern “alle diagnostischen Tätigkeiten, durch die bei einzelnen Lernenden und den in einer Gruppe Lernenden Voraussetzungen und Bedingungen planmäßiger Lehr- und Lernprozesse ermittelt, Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgehalten werden, um individuelles Lernen zu optimieren.” (Ingenkamp, Lissmann 2008: 13). Damit das gelingen kann, ist eine Professionalisierung von Lehramtsanwärter*innen in Bezug auf die von Ziemen (2016) genannten Bereiche pädagogischer Diagnostik anzuraten.
Lernende als Akteur*innen in diagnostischen Prozessen
Wie im Erklärvideo zur Verstehenden Perspektive beschrieben wurde, ist der Verstehensprozess als Teil einer Diagnostik mehrperspektivisch. Das bedeutet, dass die Innensicht der Lernenden mit der Außensicht (z.B. der Lehrperson) in der Supersicht (als Vereinbarung dieser beiden Sichten formuliert in Hypothesen) zusammenfließt (zu den verschiedenen Sichten siehe Zimpel 2013).
Damit Teilhabe für die Lernenden in diesem Prozess gelingt, müssen sie “in ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten zur
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“Selbstwahrnehmung,
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Selbsteinschätzung [und]
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Selbstartikulation” (Meyer, Jansen 2016: 210)
bestärkt werden.
Was bedeutet das für die Gestaltung von Unterricht?
Meyer und Jansen (2016) schlagen vor, Lernende bestimmte Aspekte mitentscheiden zu lassen. Diese Aspekte beziehen sich auf
Lernende sollten mitentscheiden können, welche Inhalte sie ausgehend von vorgegebenen Kompetenzen bearbeiten möchten. Mit diesem Einbezug der Lernenden in die Planung, wäre der Frage danach, „wie ein Kind unter seinen individuellen Bedingungen auf seinem Entwicklungsniveau die ihm z. B. im Unterricht dargebotene ‚Welt‘ wahrnimmt und repräsentiert“ (Feuser 1989: 28) ein Stück näher gekommen. Methoden, wie z.B. Logbücher und Lernlandkarten, können Lernende dabei unterstützen, “eigenes Vorwissen und Interessen zu verbalisieren bzw. visualisieren” (Meyer, Jansen 2016: 210, mit Verweis auf Meyer, Oleśniewicz 2013). Die Lernenden müssen die Möglichkeit bekommen, “sich a) bewusst zu machen, über welche (unterrichtsrelevanten) Interessen und Kompetenzen sie verfügen, b) einzuschätzen, wie gut (unterrichtsrelevante) Kompetenzen ausgebildet sind und c) dies so genau und umfassend zu formulieren, sodass damit ein Ausgangspunkt für erfolgreiches Lernen gesetzt ist (ebd: 210).
Methoden, die den Lernenden Raum dafür geben und mit der gleichzeitig curriculare Schwerpunkte von der Lehrperson gesetzt werden können, sind z. B. Open Space und forschendes Lernen.
“Schüler/-innen sollten selbst oder mitentscheiden können, wie viele und welche Aufgaben sie in welcher Reihenfolge auf welcher Schwierigkeitsstufe bearbeiten und welche Bearbeitungsform sie jeweils wählen wollen” (Meyer, Jansen 2016: 211, mit Verweis auf Meyer, Oleśniewicz 2013: 15, Hervorhebungen Team Fundus). Aber wie soll die Herausforderung der Passung von individuellen Kompetenzen und (formal vorgegebenen) Aufgaben bewältigt werden? Die Antwort lautet: Den Lernenden die Möglichkeit geben, selbst Aufgaben zu formulieren (Meyer, Oleśniewicz 2013: 15). So wird es möglich, dass die Lehrperson Einblicke in die individuellen Sinnstrukturen der Lernenden erhält und durch die Bearbeitungsform Aneignungsvorlieben erkennen kann.
“Diagnostisch muss ich also als Schüler/-in in der Lage sein zu entscheiden, a) welche Aufgaben inhaltlich zu meinen Interessen passen und auf die Kompetenzen bezogen sind, die ich erwerben bzw. festigen möchte und b) welches Anforderungsniveau meinem Kompetenzstand entspricht” (Meyer, Jansen 2016: 211). Lehrkräfte stehen dann vor der Aufgabe, Kompetenzerwartungen transparent zu formulieren und die Lernenden dabei zu unterstützen, ihre Ziele zu formulieren. Eine Methode für die Begleitung und Kontrolle wäre ein Fragebogen zur Selbsteinschätzung (ebd.).
Lernende sollten den Handlungsspielraum erhalten, entscheiden zu können, welche Form der Kooperation sie wählen und mit welcher Unterstützung sie arbeiten möchten (Meyer, Jansen 2016: 211). Lernende stehen hier vor der diagnostischen Aufgabe einzuschätzen, “welche Art und Form der Unterstützung” sie benötigen sowie sich darüber bewusst zu sein, “über welche sozialen Kompetenzen [sie] in Bezug auf die Kooperation mit anderen Schüler-/innen” (ebd.) verfügen. Was ist dafür von Nöten? Lernende sollten sich regelmäßig Feedback bei der Lehrperson einholen können, als auch andere Lernende um Unterstützung fragen dürfen. Ebenso ist die diagnostische Kompetenz der Lehrkraft nötig, die dadurch verschiedene Kompetenzstände der Lernenden erkennen und eine lernförderliche Gruppenzusammensetzung voranbringen kann. In der Lerngruppe sollten die Lernenden in der Reflexion ihrer gemeinsamen Arbeit auf formaler Ebene angeregt werden (ebd.).