06.06.2024
Rede von Prof.in Roswitha Böhm zur Großveranstaltung am 25.05.2024
Heute feiern wir ein Fest der Demokratie. Vorgestern vor 75 Jahren, am 23. Mai 1949, wurde das Grundgesetz unterzeichnet und trat damit in Kraft. Damals war Deutschland als Folge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, des Zweiten Weltkriegs und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit geteilt. Was wir heute auch feiern, und was hier im Osten Deutschlands, in Sachsen, in Dresden, stark in den Fokus rückt, sind die Überwindung der Teilung und fast 35 Jahre selbst errungene Demokratie durch die Friedliche Revolution.
Unsere Verfassung gibt unserer Gesellschaft eine freiheitliche demokratische Grundordnung. An ihrem Anfang steht ein kurzer, aber entscheidender Satz, der die grundlegende Ausrichtung bestimmt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Hier ist die Rede vom Menschen, hier wird nicht unterschieden, ob der Mensch ein Deutscher oder ein Geflüchteter ist, hier sehen wir einfach den Menschen. Diese Würde zu schützen und zu achten ist Verpflichtung allen staatlichen Handelns.
Freiheitlich ist unsere Verfassung, weil sie uns allen grundlegende Freiheitsrechte einräumt, ja garantiert: und zwar – ich nenne nur eine Auswahl – „das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2, Abs. 1), die Freiheit des Glaubens und des Gewissens (Art. 4, Abs. 1), die Meinungsfreiheit in Wort, Schrift und Bild sowie die Pressefreiheit (Art. 5, Abs. 1). Ganz wichtig für uns als Wissenschafts- und Kultureinrichtungen sind die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre (Artikel 5, Abs. 3) und heute für uns alle, denn davon machen wir gerade Gebrauch, die Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Abs. 1).
Demokratisch ist unsere Grundordnung, weil sie festlegt, und zwar gleich in Artikel 3 (Abs. 1), dass „alle Menschen […] vor dem Gesetz gleich“ sind. (2) Sie benennt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Abs. 2) und schützt vor Diskriminierung, denn, so derselbe Artikel 3 in Absatz 3: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Diese Verfassung ist kostbar. Sie legt nicht nur unsere bürgerlichen Grundrechte fest, sondern regelt im Weiteren auch die demokratische Verfasstheit unseres Staates und seiner Organe (Artikel 20). Angesichts von demokratie- und vielfaltsfeindlichem Populismus und Extremismus hat der Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach (anlässlich einer Festrede 2017) die Bedeutung und Schutzwirkung einer solchen Verfassung hervorgehoben: „Wir gaben uns Gesetze. Wir schufen eine Ethik, die nicht den Stärkeren bevorzugt, sondern die den Schwächeren schützt. […] Genau das ist es, was uns im eigentlichen, was uns im höchsten Maße menschlich macht: die Achtung vor unserem Nebenmenschen. […] Unser einziger sicherer Halt sind die Verfassungen der freien Länder.“
Dass Sie genau dafür heute hier sind, um unsere freiheitliche demokratische Grundordnung zu verteidigen, zu schützen und zu feiern, dafür möchte ich Ihnen herzlich danken. Wir zeigen uns gemeinsam auf den Dresdner Straßen und Plätzen, um ein Zeichen zu setzen, ein Zeichen für Demokratie und unsere freiheitlichen Grundrechte.
Heute zeigen wir: Wir sind viele. Wir stehen zusammen. Wir stehen ein für Menschlichkeit, für ein respektvolles Miteinander. Wir stehen ein für eine demokratische Gesellschaft der gelebten Menschenrechte.
Wir tun dies gemeinsam mit vielen Forschungseinrichtungen und Kulturinstitutionen in Dresden. In diesem Moment steht eine Vielzahl an Menschen in Dresden am Sachsenplatz, am Wettiner Platz und am Albertplatz. Mit ihnen, den drei anderen Sternzügen, werden wir um 15 Uhr auf dem Altmarkt zusammentreffen. Gemeinsam werden wir dort ein Fest der Demokratie feiern.
Schon seit Anfang dieses Jahres, nachdem die verfassungsfeindlichen Pläne zur sog. ‚Remigration‘ bekannt wurden, sind in ganz Deutschland unzählige Menschen auf die Straßen gegangen. Ich möchte meinen größten Respekt denjenigen zollen, insbesondere den jungen Menschen, auch unseren Studierenden, die diese Proteste in Dresden in den vergangenen Monaten organisiert haben und auch unsere heutige Veranstaltung unterstützen. Wir waren dabei und sind auch heute dabei. Wir erheben wieder unsere Stimmen, um unsere Demokratie zu verteidigen, wir stellen uns entschlossen gegen Hass, Hetze und Gewalt, gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung, gegen rechtsextreme Ideologien und Geschichtsrevisionismus. Wir setzen uns ein für Weltoffenheit, Gerechtigkeit und Toleranz, für Menschenwürde, Selbstbestimmung und Humanität, für gegenseitigen Respekt und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ich freue mich, dass Sie alle der Einladung der Wissenschafts- und Kultureinrichtungen gefolgt sind.
Danken möchte ich Rektorin Ursula Staudinger, die angesichts der Dringlichkeit, für die Demokratie aufzustehen und einzustehen, die Initiative ergriffen hat, die Wissenschaften, die Kunst und Kultur deutlich für unser demokratisches Miteinander heute in Dresden sichtbar zu machen. Danken möchte ich allen Wissenschafts- und Kultureinrichtungen, die sich beteiligen. Und ein besonderer Dank gebührt allen, die die Organisation dieser Großveranstaltung gestemmt haben und die uns im Ablauf des heutigen Tages unterstützen.
Es versteht sich von selbst: Wenn die Schlagworte Polarisierung, Spaltung und Krise der Demokratie Hochkonjunktur haben, sind die Wissenschaften gefragt, um adäquate Beschreibungen der Gegenwart zu liefern und Lösungsszenarien zu entwickeln. Kritisches Denken, Medienkompetenz und die Fähigkeit zur Quellenkritik sind nötiger denn je. Und es sind die Künste gefragt, die innovative Zugriffe und neue Wege des Dialogs aufzeigen, die wie ein Seismograph teils bereits virulent zirkulierende, teils aber auch erst subkutan spürbare Stimmungslagen aufgreifen und so als Mittel der Erkenntnis über die conditio humana unserer Gegenwart dienen. Mit der französischen Autorin und Nobelpreisträgerin Annie Ernaux gesprochen bietet Kunst „eine Herangehensweise an die Realität, die diese seziert, um sie besser sichtbar zu machen“, für Franz Kafka muss ein Buch „die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“
In unseren Lehr-, Forschungs- und Kulturinstitutionen leben wir bereits ein Miteinander, das getragen ist von Respekt gegenüber anders Denkenden, anders Lebenden, anders Aussehenden. Wir leben gleichsam berufsmäßig eine Offenheit und Neugier, die nicht zuerst Skepsis gegenüber dem Unbekannten und Fremden kennt. Vielmehr bauen wir auf Diversität und Perspektivenvielfalt. Als wissenschaftlich und künstlerisch schaffende Personen suchen wir das Neue und erkennen dessen Potentiale – nicht nur in Bezug auf unsere Fragestellungen, sondern auch in der Zusammenarbeit mit Menschen weltweit. Vielfalt bereichert und ermöglicht überhaupt erst exzellente Forschung und Bildung und gestaltet maßgeblich unser gesellschaftliches Miteinander. Eine freie Wissenschaft und eine freie Kunst sind mit ihren Erkenntnissen der Motor für ein Miteinander in Demokratie und Freiheit.
Als akademische Institution steht die TU Dresden für eine Kultur des Dialogs, der kritischen Reflexion und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung – auch mit kontroversen Themen. Wissenschaft ist immer dialogorientiert. Wissenschaft lebt von These, Antithese und Synthese, von Revision und von Austausch.
Wissenschaft – und vielleicht auch Kunst – werden jedoch herausgefordert und gesellschaftlicher Zusammenhalt wird bedroht, wenn Fake News und Fake Science die gesellschaftlichen Diskurse bestimmen, wenn in unseren Parlamenten und im Wahlkampf vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Herausforderungen angepriesen werden. Wissenschaft wird herausgefordert und gesellschaftlicher Zusammenhalt wird bedroht, wenn der demokratische Streit durch Gewalt unterbunden wird, wenn Menschen wegen ihres wissenschaftlichen, ihres gesellschaftlichen oder politischen Engagements um ihre körperliche Unversehrtheit bangen müssen.
Dem müssen wir alle – dem müssen Wissenschaft und Kultur als Teile der Gesellschaft – entschieden entgegentreten. Als staatliche Institution sind wir zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet, aber neutral sein heißt nicht zu schweigen, wenn fundamentale Werte unserer demokratischen Grundordnung wie Freiheitsrechte, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit in Gefahr sind.
Als in Wissenschaft, Kunst und Kultur tätige Menschen zeigen wir heute gemeinsam mit den Dresdner Bürger:innen Gesicht für die Notwendigkeit von Dialog und Auseinandersetzung, für tiefgründiges Hinterfragen von Thesen, für die Akzeptanz von Komplexitäten und einen gewinnbringenden Umgang damit. Es hat historisch nie einfache Antworten auf die gesellschaftlichen Herausforderungen gegeben – und es wird sie auch in Zukunft nie geben. Darin ist sich die Wissenschaft mit der Demokratie einig. Um es mit den Worten Richard von Weizsäckers zu sagen: „Auch wenn es oft nicht schnell genug geht und nicht immer auf Anhieb der Weg gefunden wird, so ist doch die Demokratie am besten in der Lage, Fehler zur Sprache zu bringen, sich zu korrigieren, Einsichten und Vernunft im Widerstreit der Meinungen zu entwickeln.“
Diese Demokratie wollen wir verteidigen. Die vielen Menschen, die sich in den letzten Wochen bei zahlreichen Demonstrationen in ganz Deutschland der rechtsextremistischen Bedrohung entgegenstellt haben, sind ein deutliches Bekenntnis und ein ermutigendes Signal. Lassen Sie uns weiterhin aktiv einstehen für den Schutz unserer Demokratie. Danke, dass Sie dabei sind!