Einsamkeit. Bestimmung und Funktion im hochmittelalterlichen Mönchtum.
Projektleiter: Prof. Dr. Dr. h.c. Gert Melville
Bearbeiter: Marcus Handke, M.A.
Einsamkeit als eine Grundbefindlichkeit menschlichen Daseins variiert zwischen positiven und negativen Vorstellungen und Empfindungen. Moderne Untersuchungen betonen einerseits aus unterschiedlichen fachlichen Blickwinkeln die Gefahren für das zunehmend isolierte Individuum in einem „Zeitalter der Einsamkeit“. Seit jeher zeigt sich im aktiven Aufsuchen der Einsamkeit hingegen auch ein Bedürfnis nach einem heilsamen Rückzug, nach Entschleunigung, Erholung und kreativ-schöpferischer Selbstverwirklichung. Ein positives Verständnis ist zudem seit Jahrtausenden besonders tief mit religiösen Formen der Lebenserfüllung verknüpft. Im Christentum und speziell im Mönchtum wurde die Nähe zu Gott durch ein Loslösen von irdischen Bindungen, Werten und der Weltansicht zu erreichen versucht. Die Bedeutsamkeit des sozialen Kontakts für den Menschen führte bereits bei den ersten einsiedlerisch lebenden Mönchen zu notwendigen Kompromissen. In Idealen allerdings lebte die Vorstellung einer singulären Heiligung völlig außerhalb von jeglichem Gemeinschaftsleben fort. Im hochmittelalterlichen Klima der Kirchenreform, der Individualisierung und Verinnerlichung wurden jene Ideale der vita apostolica und des frühen Anachoretentums wiederbelebt und waren zentrale Elemente der eremitischen Erneuerungsbewegung des monastischen Lebens. Obgleich das auffällige Einsamkeitsverlangen dieser Zeit mehrfach in der Historiographie gestreift wurde, war eine Analyse des Denkmöglichen von Einsamkeit, deren Funktionen, reichhaltige symbolische Inhalte und Bezugnahmen zu Vorbildern kein eigenes Forschungsthema.
Der zeitliche Fokus des Forschungsvorhabens liegt daher auf dem 11. und 12. Jahrhundert als einer deutlichen Konjunktur der Auseinandersetzung mit dem religiös motivierten inneren und äußeren Rückzug. Bei der Konstituierung neuer Klostergemeinschaften – wie beispielsweise jene der Kartäuser, Zisterzienser und Kamaldulenser – bildete sich durch ein unkonventionelles Synthetisieren eremitischer und zönobitischer Strukturen eine andersartige, viel intensivere Qualität der Einsamkeit heraus. Als Technik zur Annäherung an Gott wurde Einsamkeit nun funktional aufgeladen und gerade dadurch attraktiv – zugleich jedoch auch zunehmend virulent. Angesichts der vielfältigen Mühen und Beschwerlichkeiten einer gesellschaftlichen Trennung, räumlichen Reduzierung und schonungslosen Konfrontation mit dem eigenen Selbst, stellt sich nicht nur die Frage nach den veränderten Lebenskonfigurationen und institutionellen Realisierungen, sondern die Untersuchung bringt zielgerichtet auch jene klagenden, bedrückenden Stimmungen und pathologischen Züge zur Sprache. Da eine heilsrelevante Einsamkeit nicht durch bloße Normsetzung herbeigeführt werden konnte, sondern im Sinne des pädagogischen Anliegens der griechischen Philosophie und ihrer geistigen Übungen (askesis) eine Formung der Lebensart und der inneren Einstellung forderte, wurde Einsamkeit zum Gegenstand sowohl pragmatischer Schriftlichkeit als auch gelehrter theologischer Reflexion. Für die Studie sind daher normierende, paränetische, aber auch biographische Quellen wertvoll.
Dieses breite Spektrum des Untersuchungsmaterials wird unter Berücksichtigung von Genese und Provenienz durch abstrakte Ordnungsschemata einzelner Gesichtspunkte von Einsamkeit für eine komparatistische Perspektive dieser Leitidee aufbereitet. Im Ergebnis kann der unscharfe und komplexe Begriff der Einsamkeit (solitudo) durch exemplarische Behandlung besonders prägnanter Teilaspekte klare zeitspezifische Konturen erlangen. In dem Bestreben der klösterlichen Institutionen um eine ‚Sozialität der Einsamkeit‘ wird außerdem ein beachtliches Innovationspotential und eine psychosoziale Kompetenz gesehen, die es innerhalb der vita religiosa des hohen Mittelalters kultur- und ideengeschichtlich zu begründen gilt.
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