Bindung und Beziehung und warum das in der politischen Bildung wichtig ist
Emotionen und politische Bildung? Schon emotionale und hitzige Debatten in Politik und Gesellschaft erscheinen einem selbst oft genug als wenig zielführend, oder? Warum also auch noch bewusst Emotionen in der politischen Bildung mitdenken und einbringen? Und andererseits: geht das überhaupt? Politische Bildung ohne Gefühl? Warum genau jene Emotionen in allen Lern- und Aushandlungsprozessen wichtig sind und folglich auch bei politischer Bildung bewusst mitgedacht und einbezogen werden müssen, skizziert dieser Impuls. Er stellt genau diese Fragen und diskutiert sie dabei vor dem Hintergrund vom Gegenstand politischer Bildung wie auch den Lernprozessen politischer Bildung.
Dabei muss zu Beginn festgestellt werden, dass die Idee einer rein rationalen und auf Wissensvermittlung fokusierten politischen Bildung, die Emotionen und Gefühle außen vorlässt, immer noch weit (sowohl in der Fachwissenschaft wie auch der Praxis politischer Bildung) verbreitet ist und dabei nicht selten die angemessener oder gar vernünftigere Form der politischen Bildung scheint.
Da es sich bei dem Begriff "Emotion" um einen besonders vielfältig und häufig genutzten Begriff handelt, erscheint es unabdingbar an den Anfang dieser Überlegungen eine kurze Verständnisnklärung zu stellen: Emotionen werden hier als Zustände verstanden, mit denen der Mensch auf äußere Zustände reagiert. (Hölzel, Jugel 2019). Dabei geben „Positive Emotionen (...) uns die Orientierung, auf Kurs zu bleiben und die Umwelt weiter zu erforschen, während negative Emotionen uns veranlassen, Anpassungen hinsichtlich unserer aktuellen Situation vorzunehmen“ (Gozolino 2007: 97f). Für die politische Bildung ist diese Erkenntnis von besonders großem Interesse, da sie mit einer spezifischen Verantwortung einhergeht, die in anderen Bildungsbereichen nicht gleichsam schwer wiegt. Politische Bildung addressiert mit lebensweltnahen Ansätzen und ihrem gesellschaftspolitischen Gegenstand nicht selten besonders nahe, persönliche und lebenszentrale Themen, die daher häufig auch als besonders emotional wahrgenommen werden. Wenn wir vor diesem Kontext verstehen, dass dabei emotionale Erfahrungen fortwährend gegenwärtige Wahrnehmungen, Entscheidungen und Handlungen mit dem Blick auf zu erwartende Zukunft beeinflussen, müssen wir den Emotionen in der politischen Bildung deutlich mehr Aufmerksamkeit widmen (Hölzel, Jugel 2019) .
Hier sollen daher jetzt zweierlei Aspekte im Kontext von Emotionen und politischer Bildung neu (an)diskutiert werden:
- Die (Un-)Trennbarkeit von ratio und emotio (Menschen erleben alles auf emotional-kognitive Weise - dabei sind im Erleben Emotion und Kognition nicht zu trennen.) (Hölzel, Jugel 2019) sowie darüber hinausgehend
- die besondere Bedeutung von Emotionen als Grundvoraussetzung für politisches Lernen und nicht als zu elimnierender Störfaktor.
Folglich ist es zentral aufzuzeigen, dass Emotionen im Kontext von Lernen allgemein und damit auch von politischem Lernen eine zentrale Rolle spielen. Vor allem Bindung erlangt im Kontext von fachdidaktischen Diskursen einen besonderen Stellenwert: So ist es wichtig zu verstehen,
- dass eben so wie ratio und emotio nicht voneinander getrennt betrachtet werden können,
- auch der Lerngegenstand politischer Bildung, also die Inhalte und Themen, nicht losgelöst von den emotional geprägten Vorerfahrungen mit eben jenen politischen Gegenständen
- sowie den sozialen Beziehungsstrukturen (Bindung) von Gruppen, in denen diese Lerngegenstände verhandelt werden,
nicht getrennt voneinander behandelt werden können (Hölzel, Jugel 2019). Da sich jedoch der fachdidaktische Diskurs bisher stark auf die Lerngegenstände und der allgemein- sowie sonderpädagogische Kurs auf die Lernenden konzentriert haben, kam es an der Schnittstelle zwischen beiden Feldern zu einer konsequenzenreichen Verantwortungslücke bzw. zu blinden Stellen, in denen Fachdidaktik ohne emotionale Fragestellungen gedacht worde.
Die Frage nach dem Subjekt-Objekt-Verhältnis muss in Anbetracht des Dargelegten also für die politische Fachdidaktik noch einmal grundsätzlich neu gestellt werden. Wenn Emotionen die zentral vermittelnde Stelle zwischen Lernendem und seinem fachdidaktischen Lerngegenstand sind, dann muss politische Bildung der emotionalen Konstitution der Lernenden mehr Aufmerksamkeit widmen und entsprechende Instrumente entwickeln, die es erlauben, politisches Lernen entsprechend der individuellen Vorerfahrungen und der spezifischen Lerngruppe zu ermöglichen.
Emotionen, Interaktion, Bindungs- und Anerkennungspräpositionen, Sinn und Bedeutungsstrukturen müssen zentraler Teil von fachdidaktischen Modellen werden (Hölzel, Jugel 2019).
Für die Praxis bedeutet das, dass für Diagnostik ganzheitlich nicht nur Bedarfe bezüglich von Einzelsegmenten - wie Interesse, Aneignungsfähigkeiten, Bindungsstrukturen und emotionale Vorerfahrung - erhoben werden müssen, sondern alles im Kontext ihrer Verwobenheit mit den gewählten Lerngegenständen betrachtet werden sollte. Dafür bedarf es nicht nur der Entwicklung von entsprechenden Praxiskompetenzen, sondern auch der Zeit, solche Diagnostik durchführen zu können. Weder außerschulisch noch im Unterricht wird diesem Bedarf bisher umfänglich Rechnung getragen.
Bei dem genaueren Blick in die Empirie konnte hier dargelegt werden, dass vor allem solche politischen Themen, die lebensweltnah sind, gleichzeitig jene sind, die von Lernenden als bindungsgefährdend bewertet werden. Vor allem bei unbekannten bzw. neuen oder konfliktbehafteten Gruppen ist dies problematisch und behindert den Lernprozess. Daher sollten vor allem zunächst solche Themen verhandelt werden, die nicht bindungsgefährdend sind, sondern sogar im Gegenteil den Bindungsaufbau in der Gruppe selbst und zu den Praktiker*innen befördern. Dies können und sollten immer noch lebensweltnahe Themen sein, aber in exemplarischerer Form und entlang von weniger konfilktbehafteten Themen. Schüler*innen nennen hier oft Themen wie “Frieden” und “gegenseitige Unterstützung” (vgl. Besand, Hölzel, Jugel 2018: S. 89) So kann “Frieden” als Thema exemplarisch klären, wie Konflikte überwunden werden können, ohne dass es dabei um einen Konflikt gehen muss, der die Lebenswelt der Teilnehmenden direkt trifft. Wenn parallel Bindung über entsprechende Methoden hergestellt werden kann, indem vor allem Anerkennungskulturen einbezogen sowie kooperativ-arbeitsteilige und nicht auf Konkurrenz basierend Prozesse intiiert werden, dann entsteht zunehmend eine sichere Umgebung sowie eine gute Bindung in der Gruppe sowie zu den Teamer*innen, die es zulässt auch konfliktbehaftete, lebensweltnahe Themen zu besprechen.
Darüber hinaus können aus den Thesen des Artikels auch weitere Ansprüche formuliert werden. Wenngleich im vorliegenden Artikel schwerpunktmäßig die Bedeutung von Emotionen für das pädagogische und didaktische Gelingen von politischer Bildung diskutiert und analysiert wurde, gilt die Feststellung der Untrennbarkeit von Kognition und Emotion auch für die Gegenstände der politischen Bildung. Pseudoversachlichung und der Versuch einer Entemotionalisierung politischer Bildung kann folglich nur zu erschwerten Lernprozessen und damit einer Verstellung von Zugängen führen. So reicht es nicht sich im Politikunterricht mit den gesellschaftlichen Folgen von Angst und Wut - beispielsweise in Form politischer Radikalisierung oder gewaltsamer Konflikte - zu beschäftigen, sondern es braucht auch einer materialistischen Auseinandersetzung mit den Entstehungskontexten solcher Emotionen, um adäquate Handlungsoptionen und politisches Handeln diskutieren und bewerten zu können. Dem folgend ergibt sich ein dringendes Postulat an den Diskurs der politischen Bildung: Emotionen und deren konstitutiven Kontexten muss mehr Raum im curricularen Gegenstandsbereich politischer Bildung eingeräumt werden.
Abschließend soll zudem noch auf einen weiteren zentralen Erkenntnisaspekt der Begleitstudie zur inklusiven politischen Bildung verwiesen werden, der innerhalb der hier nur skizzierten Schüler*innenäußerungen dargestellt werden konnte. So zeigte sich, dass Emotionen und Bindung für das Feld der fachdidaktischen Forschung von zentraler Bedeutung sind. Der Einsatz von partizipativer Forschung und dem Ansatz des Design Based Research machte sichtbar, dass für die Sensibilisierung und Qualifizierung der politischen Bildner*innen sowie die gemeinsame Interpretation von Daten und der Entwicklung von praxistauglichen Instrumenten und Strategien, eine sichere Bindung zwischen Forscher*innen und Co-Forscher*innen (in dem Fall sind das die Bildner*innen) von zentraler Bedeutung ist. Nicht weniger deutlich hat sich innerhalb der zweijährigen partizipativen Begleitstudien gezeigt, wie wichtig eine gute Bindung vor allem mit jugendlichen Teilnehmenden an politischen Bildungsangebote ist, die über vielfältige Ausschlusserfahrungen verfügen, will man in Interviews von ihnen ehrliche und konstruktive Anregungen erhalten (siehe dazu auch Hölzel 2018). Soll also eine Offenheit erreicht werden, die dem Forschungsprozess für alle zu einer Lerngelegenheit macht, muss auch im Kontext von Forschungs- bzw. Evaluierungsmethodik stärker über Emotionen und Bindung reflektiert werden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es es wohl insgesamt eines Perspektiv- und Paradigmenwechsels bedarf, will politische Bildung (auch in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Fragmentierung und politischer Polarisierung noch) adäquate Angebote schaffen, die allen Menschen Teilhabe ermöglichen. Emotionen sind in allen Bereichen der politischen Didaktik - das heißt ihrer Forschung, ihrer Theorien, ihrer Handlungsempfehlungen und ihrer Praxis - elementar wichtig und bedürfen mehr Aufmerksamkeit.
Eine Sammlung von Methoden zum Bindungsaufbau finden Sie von uns hier auf dieser Seite.
Literatur / Vertiefungsmöglichkeiten
- Besand, Anja (2016): Zum Verhältnis von Emotionalität und Professionalität in der politischen Bildung. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Ideologien der Ungleichwertigkeit, Berlin, S. 77-83.
- Besand, Anja; Hölzel, Tina; Jugel, David (2018): Inklusives politisches Lernen im Stadion - Politische Bildung mit unbekanntem Team und offenem Spielverlauf, [Weiterdenken - heinrich-Böll-Stiftung Sachsen] Dresden. Verfügbar unter:
- Damasio, Antonio R. (2013): Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, Berlin.
- Euler, Dieter (2014): Design Research – a paradigm under development. In: Euler, Dieter/ Sloane, F.E. Peter (Hrsg.): Designed-Based Research, Stuttgart, S.15-44.
- Feuser, Georg/Jantzen, Wolfgang (2014): Bindungs und Dialog, In: Feuser, Georg/Herz, Birgit/Jantzen, Wolfgang: Emotion und Persönlichkeit, Stuttgart, S. 64-90.
- Fischer, Kurt W. (2008). Dynamic cycles of cognitive and brain development. Measuring growth in mind, brain, and education. In Battro, A. M./Fischer.K. W./ Léna, P. (Hrsg.), The educated brain,. Cambridge U.K. S. 127-150.
- Gessner, Susann (2014): Politikunterricht als Möglichkeitsraum, Schwalbach/Ts.
- Grammes, Tilman (1998): Kommunikative Fachdidaktik – Politik – Geschichte – Recht Wirtschaft, Wiesbaden.
- Gozolino, Louis (2007): Die Neurobiologie menschlicher Beziehungen, Kirchzarten.
- Heidenreich, Felix (2012): Versuch einer Übersicht: Politische Theorie und Emotionen. In: Ders./Schaal, Gary (Hrsg.): Politische Theorie der Emotionen, Baden-Baden: 9-28.
- Henkenborg, Peter (2013): Politische Bildung für die Demokratie: Demokratielernen als Kultur der Anerkennung. In: Hafeneger, Benno; Henkenborg, Peter; Scherr, Albert (Hrsg.): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder, Schwalbach/Ts., S. 106–131.
- Herz, Birgit (2017): Emotion und Persönlichkeit. In: Feuser, Georg/Herz, Birgit/Jantzen, Wolfgang: Emotion und Persönlichkeit, Stuttgart, S. 17-37.
- Hölzel, T./Jugel, D.: „Da kannst du Freunde verlieren!“. Politische Bildung, Emotionen und Bindung – Zur Aufklärung eines fachdidaktischen Irrtums. In: Besand, A./Ovewrwien, B./Zorn, P. (Hrsg.): Politische Bildung mit Gefühl. Bonn: 2019, S. 246 - 266. ( kostenloser Download hier)
- Jantzen, Wolfgang (2010): Allgemeine Behindertenpädagogik, Band 1. Sozialwissenschaftliche und psychologische Grundlagen. Weinheim.
- Jantzen, Wolfgang (2012): Am Anfang war der Sinn. Zur Naturgeschichte, Psychologie und Philosophie von Tätigkeit, Sinn und Dialog. Berlin.
- Petri, Annette (2018): Emotionssensibler Politikunterricht. Konsequenzen aus der Emotionsforschung für Theorie und Praxis politischer Bildung, Frankfurt am Main.
- CHüRE, ALLAN N. (2003): Zur Neurobiologie der Bindung zwischen Mutter und Kind. In: Heidi Keller (Hg.): Handbuch der Kleinkindforschung. 3., korrigierte, überarb. und erw. Aufl. Bern: Hans Huber.
- Schröder, Achim (2017): Emotionalisierung der Politik und Autoritarismus.
- Herausforderungen für die gegenwärtige politische Bildung. Verfügbar unter: 2017, https://transfer-politische-bildung.de/fileadmin/user_upload/Fotos/Dossiers/Schroeder_Achim-Emotionalisierung_der_Politik_Vortrag_22-06-17_Weimar.pdf (18.04.2018)
- Spitz, René A. (1970): Nein und Ja. Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Stuttgart.
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- Steffens, Jan (2016): Psychische Entwicklungspfade zwischen Inklusion und Exklusion. In: Berufsverband Heilerziehungspflege in Deutschland (Hrsg.): HEP Informationen. 38. Jahr gang 3/2016. Krumbach. 33–40.
- Von Unger, Hella (2014): Partizipative Forschung – Einführung in die Forschungspraxis, Wiesbaden.