Typische Fehler vermeiden oder: die Fallen politischer Bildung
Für eine gelingende politische Bildung können sich die Bildungsverantwortlichen nicht auf die Moderation vorhandener Meinungen und Einstellungen zurückziehen. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, Kontroversen nicht zu vermeiden (Henkenborg et al. 2008), Komplexität zu vergrößern (Sander 2013), eingefahrene Denkweisen zu irritieren und Perspektivwechsel zu inszenieren (Grammes 1998), unterrepräsentierte Perspektiven zu stützen (Schelle 1995 und 2003), Differenzen einzubringen (Achour 2013), Konflikte auszuhalten (Besand 2019) und die politische Bildung als Möglichkeitsraum, in dem politische und soziale Fragen auch kontrovers verhandelt werden können, zu erhalten (Gessner 2014), gesellschaftliche/epochaltypische Schlüsselprobleme bzw. Schlüsselfragen oder -qualifikationen sichtbar zu machen (Massing/Weißeno 1995; Klafki 2005; Petrik 2013; Negt 2000), im Umgang mit extremistischem Gedankengut Indifferenzen zu vermeiden (Behrens 2014), Reibungsfläche zu bieten (Petrik 2013), Hoffnung zu bewahren (Szukala 2013; Besand 2019c) und Selbstwirksamkeitserfahrungen und Schlüsselqualifikationen zu vermitteln (Negt 2000, Eis/Salomon 2014).
Nichts leichter als das – könnte man meinen.
Auf der Suche nach empirisch fundierten Herausforderungen, die sich speziell im Kontext politischer Bildung stellen, stößt man gleichzeitig allerdings auch auf folgenden durchaus handlungsleitenden Zusammenhang: Denn auch und gerade in der politischen Bildung existieren typische „Fallen“, die Fachkräfte im Hinblick auf gelingende politische Bildung in schulischen Handlungssituationen vermeiden sollten (vgl. Autorengruppe Fachdidaktik 2015, S. 92; sowie Sander 2013, S. 68 ff. und Henkenborg 2009, S. 109).
Diese Fallen lassen sich in aller Kürze folgendermaßen beschreiben:
Wissensfalle:
Werden im Rahmen politischer Bildung vornehmlich Einzelinformationen ohne Einbettung in einen Kontext angehäuft, besteht die Gefahr einer Entpolitisierung (vgl. Henkenborg 2008, S. 66–77).
Kontextfalle:
Die politische, ökonomische oder soziale Entscheidungsfrage verschwindet hinter einer Flut von Einzelinformationen (vgl. Grammes 1998, S. 513–539).
Parallelisierungsfalle:
Um komplexe soziale Sachverhalte zu erklären, werden häufig Analogien zwischen privaten Lebenssituationen und Strukturen im politischen System verwendet. „Der Staat ist eine große Familie, der Klassenrat unser Parlament“. Die Grenzen dieser Analogien werden allerdings oft nicht aufgedeckt.
Moralisierungsfalle:
Durch eine vorschnelle Unterscheidung von Gut und Böse werden bestimmte Zusammenhänge und Deutungen als erwünscht, objektiv und wahr gekennzeichnet und damit gegen Kritik und skeptische Fragen immunisiert. Beispiele bei Grammes (1998, S. 17–55).
Meinungsfalle:
Alle in der Bildungssituation geäußerten Meinungen und Einstellungen werden
als gleich gültig anerkannt und mit dem Recht der Adressat:innen auf freie Meinungsäußerung begründet. Das kann zu einem kriterienlosen Relativismus führen, der junge Menschen mit ihren Orientierungsbedürfnissen alleinlässt. Beispiele in Behrens (2014, S. 70 ff.).
Scheinbeteiligungsfalle:
Die Durchführung von Wahlen und Abstimmungen allein ist noch kein Garant für eine echte Beteiligung von Teilnehmer:innen. Es muss auch etwas zu entscheiden sein. Die Auswahl der Band für das Sommerfest im Jugendzentrum wäre in diesem Sinne noch kein Beleg für eine demokratische Kultur der Einrichtung (vgl. Besand 2019).
Legitimationsfalle:
Insbesondere in Zeiten, in denen die liberale Demokratie vor Herausforderungen steht, gerät die politische Bildung oft schnell in die Defensive und versteigt sich in der Legitimation bestehender Strukturen und Verfahren. Legitimation ist aber nicht die Aufgabe politischer Bildung. Sie darf deshalb nie im Bestehenden verhaftet bleiben, sondern muss immer offen sein, sich neuen gesellschaftlichen Herausforderungen (wertgebunden) zu stellen und nach neuen Lösungen zu suchen.
In Umkehrung der hier vorgestellten Fallen und als Zusammenfassung wird sichtbar: Politische Bildung ist gut, wenn sie sich auf ihre Adressat:innen ernsthaft einlässt und in durchaus riskanten Situationen gemeinsam nach Antworten auf drängende Fragen sucht. Sie ist auf die zukünftige kompetente und selbstbewusste Mitbestimmung ihrer Adressat:innen gerichtet und muss diese aus diesem Grunde auch im Bildungsprozess bereits aktiv einlösen. Teilnehmer:innen als politische Subjekte ernst zu nehmen, heißt in diesem Zusammenhang auch nicht, ihre politischen Urteile, Einstellungen und Meinungen unterschiedslos zu akzeptieren. Ernst nehmen heißt vielmehr, sich ernsthaft kritisch mit diesen Meinungen auseinanderzusetzen und nach Mitteln und Wegen zu suchen, in denen demokratische Verständigung und Anerkennung möglich ist und möglich bleibt.
ANGEPASSTER TEXTAUSZUG AUS:
Behrens, Rico/ Besand, Anja/ Breuer, Stefan (2021): Politische Bildung in reaktionären Zeiten. Plädoyer für eine standhafte Schule, Frankfurt/ M.: Wochenschau, S. 55-57.
Literatur:
Autorengruppe Fachdidaktik (2016): Was ist gute politische Bildung, Schwalbach/Ts.
Achour, Sabine (2013): Bürger muslimischen Glaubens. Politische Bildung im Kontext von Migration, Integration und Islam, Schwalbach/Ts.: Wochenschau.
Behrens, Rico (2014): Solange die sich im Klassenzimmer anständig benehmen. Politiklehrer/innen und ihr Umgang mit rechtsextremer Jugendkultur in der Schule, Schwalbach/Ts.: Wochenschau.
Besand, Anja (2019): Was ist gute politische Bildung in der Schule?, in: Bildung und Erziehung 3/2019, S. 262–276.
Besand, Anja (2019): Hoffnung und ihre Losigkeit – Politische Bildung im Zeitalter der Illusionskrise, in: Dies./Overwien, Bernd/Zorn, Peter (Hrsg.): Politische Bildung mit Gefühl, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 173–187.
Henkenborg, Peter/Krieger, Anett/Pinseler, Jan/Behrens, Rico (2008): Politische Bildung in Ostdeutschland. Demokratie-Lernen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Eis, Andreas/ Salomon, David (2014): Partizipationskulturen und gesellschaftliche Lernprozesse in der „Postdemokratie“, in: Lange, Dirk/ Öftering, Tonio (Hrsg.): Politische Bildung als lebenslanges Lernen, Schwalbach/Ts.: Wochenschau, S. 44–54.
Grammes, Tilman (1998): Kommunikative Fachdidaktik. Politik – Geschichte – Recht – Wirt- schaft, Opladen: Leske + Budrich.
Gessner, Susann (2014): Politikunterricht als Möglichkeitsraum. Perspektiven auf schulische politische Bildung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Schwalbach/Ts.: Wochenschau.
Klafki, Wolfgang (2005): Allgemeinbildung in der Grundschule als Bildungsauftrag des Sach- unterrichts, hier online verfügbar [05.09.2019].
Massing, Peter/ Weißeno, Georg (1995): Politik als Kern der politischen Bildung, Opladen: Leske + Budrich.
Negt, Oskar (2000): Umbrüche und Veränderungen, Vortrag beim DGB-Bildungswerk NRW (vervielf. Manuskript).
Petrik, Andreas (2013): Von den Schwierigkeiten, ein politischer Mensch zu werden. Konzept und Praxis einer genetischen Politikdidaktik, 2., erw. u. aktual. Aufl., Studien zur Bildungsgangforschung, Opladen: Budrich.
Sander, Wolfgang (2013): Politik entdecken – Freiheit leben: didaktische Grundlagen politischer Bildung, Schwalbach/Ts.: Wochenschau.
Schelle, Carla (1995): Schülerdiskurse über Gesellschaft: „Wenn du ein Ausländer wärst“. Untersuchung zur Neuorientierung schulisch-politischer Bildungsprozesse, Schwalbach/Ts.: Wochenschau.
Schelle, Carla (2003): Politisch-historischer Unterricht hermeneutisch rekonstruiert: von den Ansprüchen Jugendlicher, sich selbst und die Welt zu verstehen, Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt.
Szukala, Andrea (2013): Der Zusammenhang zwischen epistemologischen Überzeugungen und Lehr-Lernüberzeugungen in der sozialwissenschaftlichen Domäne, in: Besand, Anja (Hrsg.): Schülerforschung und Lehrerforschung in der politischen Bildung, Schwalbach/Ts.: Wochenschau, S. 33–54.