Projektbeschreibung
Die Schmähung und Verspottung anderer Personen und Gruppen als „Spießer“ ist in der (deutschsprachigen) Lebenswelt ein weitverbreitetes Phänomen – umso erstaunlicher ist es, dass diese Alltagspraxis bisher kaum erforscht wurde. Das Teilprojekt untersucht Spießerbeschimpfungen aus kultursoziologischer Perspektive und zeichnet die Genealogie des Spießerverdikts nach, indem sie es ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt und als relevantes Moment der Etablierung und Veränderung von Vorstellungen sozialer Ordnung herausarbeitet. Dabei sind es insbesondere die Mitte der Gesellschaft und die ihr zugeordneten Sozialfiguren, die im Spießerverdikt zum Thema werden (vgl. Engel/Schrage 2021).
Mit dieser Fragestellung wurden seit 2017 drei empirische Fallstudien durchgeführt, die mit diskursanalytischen Mitteln die Sozialfiguren des Philisters, des Kleinbürgers und des Spießbürgers untersuchten und damit eine ertragreiche Neuperspektivierung der bisher vorrangig in der Literatur- und Geschichtswissenschaft durchgeführten Analysen dieser Figuren liefern. In diesen Sozialfiguren, so wird deutlich, kristallisieren sich Deutungskämpfe um die ‚richtige‘ Lebensweise heraus: Die Ideale der vernunft- und moralbasierten Mäßigung und der Einhaltung althergebrachter Normen werden nun als medioker und als Ausdruck geistiger und sozialer Stagnation herabgesetzt. Philister, Kleinbürger und Spießer stehen dabei gleichermaßen für dezidiert abzulehnende Lebensweisen, sie fungieren als ‚Desidentifikationsangebote‘. Sie leiten keinen Dialog ein, vielmehr unterbinden sie jede Antwort der derart Verunglimpften, da sie sich vor allem an ein Publikum richten, das von der Minderwertigkeit dieser Lebensweisen überzeugt werden soll. Diese Invektiven grenzen Andere damit nicht nur aus und setzen sie herab, sie setzen die Höherwertung der eigenen Haltungen und Praktiken, der eigenen Lebensweise zugleich auch gegenüber diesem Publikum durch (vgl. AG "Medien- und Formwandel"). Die kommunikativen, performativen und medialen Mittel variieren zwischen verlachendem Spott, Satire und wissenschaftlicher Kritik, poetischen Werken, Zeitschriftenbeiträgen und Abhandlungen. Die Normenhorizonte der Schmähenden unterscheiden sich zudem häufig stark, wie die Fallstudien belegen.
Von soziologischer Brisanz sind v.a. die gesellschaftlichen Effekte dieser kommunikativen Praxis, denn sie verändert das Gefüge sozialer Positionen (vgl. AG "Soziale Positionierung") in einer etablierten Ordnung, indem sie die vorgefundenen Positionen umwertet oder neue schafft. Diese alternativen Hierarchisierungen operieren dabei vorrangig über eine temporale Indexierung der Positionen: Regelmäßig wird den abgewerteten Lebensweisen attestiert, dass sie nicht auf der Höhe der Zeit und nicht zukunftsfähig seien, sondern einer vergangenen Epoche angehörten. Die Invektiven werden dementsprechend von Gruppierungen entworfen, die sich selbst als Avantgarde und Innovatoren verstehen und gegen die hegemonialen Normen und die durch sie fundierten Verhältnisse anschreiben.
Die Forschungen des Teilprojekts liefern Beiträge zu zwei Forschungsfeldern: Erstens wird aus einer historisch-wissenssoziologischen Perspektive und mit dem Fokus auf kulturelle Deutungen ein spezifischer Zugang für die Erforschung des Wandels sozialer Ordnungen – mit Schwerpunkt auf die gesellschaftliche Mitte – entwickelt. Es wird deutlich, dass das Konzept der sozialen Mitte, das als solches Anfang des 20. Jahrhunderts in den Horizont sozialwissenschaftlicher Bearbeitung tritt, bereits im 19. Jahrhundert diskursiv vorbereitet wird und Diskurse über gesellschaftliche Ordnung und die richtigen Lebensweisen bis weit in das neue Jahrhundert hinein prägt. Zweitens wird mit Hilfe des für soziologische Forschungen neuen Konzepts der Invektivität gezeigt, wie die diversen kommunikativen Formen des Spießerverdikts als herabsetzende Kommunikation zur Veränderung und Produktion von Ordnungsvorstellungen sowie zu Dynamiken sozialer Transformation beitragen: Sie thematisieren gesellschaftliche Wandlungsprozesse im Modus des Invektiven und werden so aufgrund ihrer Konflikte anreizenden Perspektivität selbst als Faktor des Wandels wirksam. Die im Laufe des 19. Jahrhunderts entstandenen Muster der Spießerverdikte bleiben, nicht zuletzt vermittelt durch die gesellschaftlichen Konflikte um alternative Lebensweisen seit den 1960er Jahren, bis heute wirkmächtig und in Charakterisierungen der Mitte hochvirulent.
Engagement der Projektbeteiligten im SFB:
- AG Soziale Positionierung (Dominik Schrage)
- AG Medien- und Formwandel (Sonja Engel)
- Theorie-AG (Sonja Engel, Dominik Schrage als Co-Koordinator)
- Kooperation mit der SLUB bzgl. Forschungsdatenmanagement (Sonja Engel, Dominik Schrage)
- Konzeptgruppe Einrichtungsantrag und erste Laufzeit (Dominik Schrage)
- Redaktionsteam Fortsetzungsantrag (Dominik Schrage)
Einladungen zur Ringvorlesung des SFB 1285:
- 06/2020 Ass. Prof. Robert Braun, PhD (Sociology Department, University of Berkeley): “Bloodlines: Border Crossings and Jewish Bogeyman in Weimar Germany”
- 01/2020 Prof. Dr. Raj Kollmorgen (Forschungsinstitut „Transformation, Wohnen und soziale Raumentwicklung“, Hochschule Zittau/Görlitz): „Von der Missachtung zur Verachtung. Zur Formierungslogik ost- und westdeutscher Diskurswelten“
- 09/ 2019 Dr. Christine Bratu (Philosophie, LMU München): „Missachtung – worin sie besteht und warum sie moralisch falsch ist“