Projektbeschreibung
Das Teilprojekt widmet sich der Frage, wie demokratische Verfassungen mit invektiven Äußerungen im Internet umgehen können. Zentral wird dabei eine Neuvermessung des grundrechtlichen Verhältnisses von Äußerungsfreiheiten und Persönlichkeitsschutz sein. Die Konstitution von Öffentlichkeit(en) muss in diesem Zusammenhang Dreh- und Angelpunkt der Perspektivbildung werden, so die unterlegte These, weil sie gleichermaßen Grundbedingung demokratischer Verfasstheit, Kriterium der Abgrenzung von Äußerungsfreiheiten und Persönlichkeitsrechten sowie Beschreibungsmerkmal invektiver Internetphänomene bildet.
Invektive Äußerungen im Internet, die sich beispielsweise Phänomenen wie cyberbullying und shitstorms, doxxing und shaming bzw. shamestorms oder swarming (Bewertungsportale) zuordnen lassen, fordern das grundrechtliche Verhältnis von Äußerungsfreiheiten (Meinungs- und Pressefreiheit, aber auch Kunstfreiheit) und Persönlichkeitsschutz heraus. Sie stellen dabei nicht einfach nur weitere Fälle einer typischen verfassungsrechtlichen Kollisionslage zwischen diesen Grundrechtstypen dar, sondern sind vielmehr Ausdruck einer tiefgreifenden Veränderung medialer Bedingungen von Gesellschaft, die Grundkoordinaten demokratischer Verfasstheit betreffen: das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, welches im grundrechtlichen Verhältnis von Persönlichkeitsschutz und Äußerungsfreiheiten eine spezifische Konkretisierung findet. Anwesenheit und Abwesenheit von Kommunikationsbeteiligten lassen sich im digitalen Raum keiner Seite des Verhältnisses zuordnen; Publizität im Netz ist unzerstörbar (kein Vergessen im Internet) und macht Zeitpunkte sowie Situierung der Herstellung von Öffentlichkeiten unvorhersehbar; die Geschwindigkeit und Verortung entstehender digitaler Öffentlichkeiten folgt anderen Regeln als im Falle der für und durch Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit; Anonymität dient nicht nur als Mittel zum Schutz der Privatheit, sondern auch zur Bedrohung derselben. Es sind solche medialen Aspekte digitaler Lebenswelten und Handlungsrationalitäten, die das Recht dazu zwingen, die Grenzen von öffentlich und privat (auch) in Bezug auf digitale Kommunikation neu zu formieren.
Invektive Phänomene wie cyberbullying oder shitstorms zeigen sich hier einerseits paradigmatisch für die grundrechtliche Problemlage: Jede Beschränkung der Äußerungsfreiheiten unterläuft eine Grundbedingung des Demokratischen, die Möglichkeit öffentlicher Kommunikation; unbeschränkte Äußerungsmöglichkeiten dagegen laufen Gefahr, Betroffene der Möglichkeit kommunikativer (demokratischer) Beteiligung zu berauben. Im Vordergrund der Untersuchung stehen deswegen Probleme des Grundrechtsschutzes, die sich im Zusammenhang mit solchen Invektiven aus Kollisionen von Äußerungsfreiheiten und Persönlichkeitsschutz ergeben und rechtsvergleichend betrachtet (exemplarisch: USA) unterschiedlich behandelt werden. Von den invektiven Phänomenen im Netz ausgehend soll daher erstmals eine grundsätzliche, die transnationalen Unterschiede wie Bezüge einschließende Neuvermessung des Feldes vorgenommen werden – der Begriff der Invektivität ermöglicht es, bislang rechtssystematisch verstreute Phänomene in einer Forschungsperspektive zu konzentrieren.
Andererseits und damit zusammenhängend wird sich das Teilprojekt der dreifachen Rolle der Öffentlichkeit in dieser verfassungsrechtlichen Konstellation widmen: Öffentlichkeit/Publizität ist zum einen Modus und Kriterium der Invektiven im Netz, zum anderen verläuft die Kollision von Äußerungsfreiheiten und Persönlichkeitsschutz entlang der jeweiligen Grenzziehung einer Verfassung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Damit aber wird die Emergenz digitaler Öffentlichkeiten (Münker 2009), wie Invektiven im Netz sie provozieren und nutzen, drittens auch zu einer Herausforderung der demokratietheoretischen Grundlage einer Verfassung: Demokratische Verfassungen müssen die Erzeugung immer neuer, auch fragmentierter, simultaner und digitaler Öffentlichkeiten ermöglichen, gleichzeitig aber die Individuen soweit vor diesen Öffentlichkeiten schützen, dass sie selbstbestimmt und damit (demokratisch) beteiligungsfähig bleiben.
Insgesamt sollen im Rahmen des Teilprojekts also nicht nur die Phänomene invektiver Äußerungen im Netz verfassungsrechtlich untersucht werden, sondern grundsätzliche Verschiebungen im Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, die von den Netzphänomenen indiziert werden, verfassungstheoretisch fassbar gemacht werden. Gleichzeitig soll die Untersuchung invektiver Internetphänomene zur Konturierung von Invektivität als Begriff beitragen, indem sie diese Phänomene typisiert und deren spezifische demokratie- und öffentlichkeitsrelevanten Spannungslagen entschlüsselt.