Die Joker
Inhaltsverzeichnis
Die Joker sind Instrumente, die den Lernenden die Möglichkeit geben sollen, entsprechend ihrer Bedürfnisse Einfluss auf Lehr-Lern-Settings und deren Gestaltungsprozesse zu nehmen. Sie werden durch die Lehrperson eingeführt. Die Joker ermöglichen es den Lernenden, an jeder Stelle in die Durchführung einzugreifen, wenn kollektive wie individuelle Bedürfnisse und Grenzen nicht beachtet wurden. Sie fokussieren zentrale Aspekte inklusionssensibler Lehre:
- Veto - Einspruch beim Überschreiten von Grenzen – Inklusionsverständnis
- Klarheit - Verständnis bei den Lernenden hinsichtlich des verhandelten Themas – Didaktik/Differenzierung
- Tempo - Angemessenheit des Tempos bei der Auseinandersetzung – Isolation
- Verantwortung - Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse aller in der Lerngruppe und Ansprechen der verantwortung der Lehrenden - Beziehung
- Störgefühl - Irritation oder Hindernis im Auseinadersetzungsprozess – Isolation
- Freispiel - Möglichkeit zur individuellen Weiterarbeit oder Pause
Die Joker gehen auf das Veto-Prinzip® nach Maike Plath zurück.
Die sechs demokratischen Führungs-Joker
Veto ist der wichtigste der sieben demokratischen Führungsjoker.
Veto bedeutet: Ich will nicht. Ich verweigere den Auftrag.
Den Auftrag verweigern kann ich auf verschiedene Weisen. Ich kann erstens Veto laut sagen oder zweitens nonverbal artikulieren. Ich kann zum Beispiel einfach im Raum stehen bleiben, mich hinsetzen oder mich mit anderen Dingen beschäftigen und warten, bis ein anderer Auftrag kommt. Die dritte Möglichkeit des Vetos ist es, die Seite zu wechseln und aus der Lernenden-Position in die Lehrenden-Position zu wechseln.
Im besten Fall bleibe ich im Raum und verlasse diesen nicht, um dem Prozess der anderen weiterhin zu verfolgen. Es ist wichtig, dass alle grundsätzlich im gemeinsamen Erfahrungsraum bleiben und sich innerhalb dieses Raumes frei für die, für sie gerade stimmige, Rolle entscheiden können.
Tempo bedeutet, dass mir irgendetwas gerade zu schnell oder zu langsam geht. Ich bekomme zum Beispiel zu viele oder zu wenig Ansagen oder Zeit zum Bearbeiten von Fragen. Tempo kann auch signalisieren, “Ich komme mit dem Sprech- oder Handlungstempo nicht zurecht”. Ich kann „Tempo!“ an die Lehrende-Person, aber auch an andere Lernende zurückmelden.
Freispiel bedeutet, ich brauche Raum und Zeit für mich. Ich kann temporär aus dem gemeinsamen Gruppenprozess aussteigen und mich entweder alleine mit dem einem Gegenstand beschäftigen oder mir eine Pause nehmen, wenn ich diese brauche.
Klarheit soll Barrieren auflösen. Ich kann Klarheit an die Lehrende-Person zurückmelden, wenn ich etwas nicht verstanden habe. Dabei ist es egal, aus welchen Gründen ich etwas nicht verstanden habe. Es kann sein, dass zu leise gesprochen oder sich zu umständlich ausgedrückt wurde. Oder es wurde eine Sprache verwendet, die ich nicht verstehe. Mit Klarheit signalisiere ich der Lehrperson oder anderen Lernenden, dass diese sich irgendwie anders ausdrücken muss, damit ihre Botschaft ankommt. Die Karte Klarheit kehrt das Verhältnis, das normalerweise herrscht, um. Denn normalerweise fühlt sich die Person, die etwas nicht verstanden hat, unterlegen. Dies ist aber falsch, weil es in der Verantwortung der Lehrperson liegt, so zu kommunizieren, dass die Aufträge bei den anderen ankommen.
“Störgefühl” kann ich immer dann melden, wenn mich irgendetwas im Prozess blockiert, bzw. ich eine Irritation empfinde, die mich ablenkt oder behindert. Ich muss noch gar nicht genau wissen, was meinem Störgefühl zugrunde liegt, ich zeige mit diesem Führungsjoker nur an, dass irgendetwas mich gerade daran hindert, wirklich „da zu sein“. Wenn ich Störgefühl sage, gilt das Gesetz “Konflikte haben Vorrang”. In diesem Fall moderiert die Leitung (oder in der Kleingruppe eine andere Person) und behebt durch ein klärendes Gespräch mit den Beteiligten das “Störgefühl”. Dabei darf das gemeinsame (Lern-) Ziel nicht aus den Augen verloren werden.
Verantwortung kann ich zurückmelden, wenn ich merke, dass ein Auftrag über die Grenzen anderer Lernender im Raum gehen könnte. Ein Beispiel wäre: Von der Lehrperson kommt der Auftrag: Alle geben sich die Hand. Eventuell weiß ich aber, dass es Lernende in der Gruppe gibt, die aus verschiedenen Gründen keinen Körperkontakt wollen. Eventuell weiß die Lehrperson dies nicht. Ich kann in dem Fall also als Lernende Verantwortung für andere übernehmen, indem ich als Korrektiv agiere. Wenn ich Verantwortung rufe, wird der Auftrag komplett storniert. Verantwortung heißt quasi „Reset“.
Um den Blick von außen einzunehmen, trete ich als Teil der Gruppe zurück, um von außerhalb das Geschehene zu beschreiben und zu reflektieren. Ich betrachte die Situation oder den Prozess aus einer Helikopterperspektive. Dies kann auf Momente der Störung oder des Ausschlusses zutreffen sowie auf gelungene Arbeits- und Gruppenprozesse. Den Blick von außen kann ich dabei individuell oder mit einer Gruppe einnehmen. Ich kann den Blick von außen auch nur für mich gedanklich einnehmen.
Warum sollten die Joker in der Lehre eingesetzt werden?
“Es gibt nach wie vor eine weit verbreitete Tendenz, bei (Disziplin-) Problemen autoritär zu reagieren [...]. In überfordernden Situationen wird aus der Not heraus vielfach autoritär “gegenan regiert” – das heißt, es wird auf Belohnung, Bestrafung [...] zurück gegriffen[sic!]” (Plath 2023). Konflikte werden so verschärft und negative Erfahrungen in Lehr-Lern-Settings verstärkt. “Selbständiges Denken und Handeln” (ebd.) wird so erschwert oder gar verhindert.
Die Joker ermöglichen den Teilnehmer*innen nicht nur Mitbestimmung. Vielmehr fordern sie die Lernenden wie Lehrenden auf, spielerisch und handlungsorientiert Bedürfnisse und Grenzen aufzuzeigen und entsprechende Lösungen zu finden. Sie ermächtigen die Lernenden aktiv auf die konkrete Gestaltung von Angeboten einzuwirken. Lernenden wird so die Möglichkeit (zurück)gegeben, aktive Beteiligte statt passiver Rezipient*innen zu sein. Lehrende werden wiederum in die Verantwortung genommen, auf die Bedürfnisse der Lernenden zu reagieren. Schlussendlich werden Bedürfnisse transparent und die Gestaltung von Lehr-Lern-Settings demokratischer. Lernen wird so gemeinsam möglich und die Gestaltung der Lehr-Lern-Settings zur Aufgabe aller Beteiligten.
Die persönlichen Potentiale aller Beteiligten kommen zur Entfaltung. Gleichzeitig werden sie befähigt und motiviert, Verantwortung zu übernehmen, wodurch Vielfalt als wertvolle Ressource in vollem Umfang wirksam werden kann.
Was sollte beim Einsatz der Joker beachtet werden?
Die Einführung der Joker kann für alle Beteiligten verschiedene Herausforderungen mit sich bringen. Offenheit und ehrliche Mitbestimmung sind in vielen Lehr-Lern-Kontexten keine grundlegenden Prinzipien. Alle Beteiligten müssen sich demnach in gewisser Weise an diese Form von gemeinsamen Lernen “gewöhnen”.
Was ist bei der Einführung der Joker zu erwarten und wie kann damit umgegangen werden:
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Keine Angst vor der Angst: Lernenden Mitbestimmung zu ermöglichen bedeutet, Kontrolle abzugeben. Das kann zu Verunsicherung führen, wenn nicht vorhergesagt werden kann, wie sich Lehr-Lern-Phasen entwickeln, welche Prozesse durchlaufen oder welche Ergebnisse hervorgebracht werden. Lernen und Entwicklung benötigen jedoch genau diese Räume.
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Mut zum Chaos: Es kann passieren, dass durch die Einführung der Joker die Lernenden ihre Freiheit nutzen und “anarchisch wirkende Phasen” (Plath 2023) zustande kommen. Frustration, Wut aber auch Selbstzweifel können hier aufkommende Gefühle sein. Öffnen Sie sich diesen und nutzen Sie sie zur Reflexion eigener Erwartungen, Bedürfnisse und Vorstellungen.
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Mitbestimmung braucht Sicherheit: Es kann passieren, dass die Lernenden zunächst die Joker nicht nutzen. Gerade in institutionalisierten Lehr-Lern-Kontexten sind Lernende es nicht gewohnt, ehrlich und aktiv mitbestimmen zu können: Lernende brauchen die Sicherheit, dass bspw. beim Veto keine negativen Konsequenzen folgen. Ein gelingender Einsatz der Joker bedarf demnach auch guter Beziehungen und einem wertschätzenden Umgang mit Emotionen. Versuchen Sie, sichere Lernräume für alle zu schaffen und die Lernenden zum Nutzen der Joker zu ermutigen.
Material
Der Fundus bietet als Material die Joker als A5-Karten zum Einsatz in der Lehre an. Zwei Joker passen auf eine A4-Seite und können so ausgedruckt werden.
Weiterhin bietet der Fundus ein Reflexionsmaterial an, das sowohl vor der Einführung der Joker genutzt werden kann als auch währenddessen.