Invektiven als emotionale Mobilisierung von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus 1924-1938
Table of contents
Projektbeschreibung
Die „Republik ohne Gebrauchsanweisung“ (Alfred Döblin) war der Ort vielgestaltiger Invektiven und spektakulärer Beleidigungsprozesse. Das Teilprojekt H analysiert die Beleidigungskultur der Weimar Republik und ihrer Transformation in den Nationalsozialismus zwischen 1924-1938 aus verschiedenen Perspektiven. Es betrachtet: Hetze und Schmähung im öffentlichen Raum (AB A); alltägliche Beleidigungen, die vor Gericht verhandelt wurden (AB B) und Verwaltungshandeln (AB C).
Im Zentrum steht die Frage, welche Bedeutung invektive Alltagspraktiken für politische Mobilisierungs- und Radikalisierungsprozesse besitzen. Analytisch stehen dabei Gefühle im Mittelpunkt. Leitend ist die These, dass invektive Kommunikationsmuster intensive Emotionen produzieren, die Aufmerksamkeit generierten und politische Bewegungen mobilisierten. In der ersten Hälfte der Weimarer Republik riefen spektakuläre Beleidigungsprozesse große öffentliche Aufmerksamkeit hervor. Seit Mitte der 1920er Jahre kann partiell eine kalkulierte und regionsübergreifend vernetzte Destabilisierung durch Beleidigungen und übler Nachrede beobachtet werden, deren Kontinuitäten, Eskalationen und Steigerungen in den NS hineinwirkten und Voraussetzung für die schnelle Transformation nach 1933 waren.
Gerichtliche Verhandlungen waren aufgrund ihrer Schwerfälligkeit kein adäquates Mittel zur Einhegung der Schmähkultur. Dies produzierte Enttäuschungen, Frustrationen und beschädigte Gerechtigkeitsgefühle auf Seiten der Beleidigten. Politische Faktoren, zum Beispiel Amnestien, behinderten die Effizienz juristischer Strafverfolgung. Administrative Invektiven folgen einer anderen emotionalen Logik als Straßeninvektiven. Sie haben häufig vereinzelnde Effekte (sich von den Ämtern beschämt fühlen), und sind eng mit der Produktion von Legitimität verbunden. Linke Schmähungen konzentrierten sich dabei häufig auf eine wichtige Ressource der Republik, auf sozialstaatliche Leistungen.
Somit kann durch Invektiven die Verbundenheit mit Staat und Gesellschaft erodieren (das sich Verletzt fühlen durch unzureichende staatliche Leistungen) oder bestärkt werden, zum Beispiel durch die administrative Ausgrenzung aus der „Volksgemeinschaft“, die den Anschein von Legalität und Legitimität erwecken kann.
Arbeitsbereich A
"Herabwürdigungen im öffentlichen Raum: auf der Straße, in Nachbarschaften und Medien"
Hetze und Abwertung waren alltägliche Phänomene und schufen in der Wahrnehmung der Zeitgenossen einen Modus der Unversöhnlichkeit. Die bisherige Forschung konzentriert sich vor allem auf körperliche Gewalt, Straßenkämpfe und politisch motivierte Unruhen. Welche Rolle Beleidigung, Abwertung und „Hassrede“ konkret für den Niedergang der Weimarer Republik spielte, ist bislang noch kaum in den Blick genommen worden. Im AB A wird gezeigt, welche Relevanz Beleidigungen während der Weimarer Republik und im frühen Nationalsozialismus besaßen, auf welche Weise sie ihr Publikum erreichten, wie sie dieses emotional und praktisch in das Geschehen hineinziehen konnten. Es zeigt sich, dass die Radikalisierung der Beleidigungspraktiken schon 1925/6, also deutlich vor der schweren ökonomischen Krise begann und diese in gezielten Schmähkampagnen flächendeckend gegen demokratische Bürgermeister verschiedener Parteien, örtliche Polizeipräsidenten sowie gegen jüdische (Lokal-)politiker/Stadtverordnete und Honoratioren eingesetzt wurden und lokale Öffentlichkeiten erschütterten mit dem Ziel, die demokratischen Führungsschichten bis auf die unterste Ebene kalkuliert zu schwächen und die Gesellschaften vor Ort zu destabilisieren. Mit Hilfe des Konzepts der Invektivität werden die stabilisierenden und destabilisierenden Effekte von Hetze und Beleidigung, ihre medialen Voraussetzungen und ihre Wirkung auf die Betroffenen neu in den Blick genommen. Dabei werden auch die Schmähstrategien gegen die Nationalsozialisten berücksichtigt. Die Eskalationsdynamiken, die sich auch deshalb verstärkten, weil sich frühe Nationalsozialisten von republikanischer, bürgerlicher und kommunistischer Seite geschmäht fühlten, werden z.B. anhand der Biogramme in den sogenannten „Abel-Papers“ nachvollzogen.
Sowohl am Ende der Weimarer Republik als auch im Nationalsozialismus wurden die lokalen Öffentlichkeiten emotional und auch sensorisch mobilisiert. Körperbezogene Beleidigungen wurden häufig eingesetzt. Zudem wurden neben dem eingeführten Beleidigungsarsenal (Korruption, „Bonzentum“, Verschwendung, „Doppelmoral“ kriegsbezogene Beleidigungen usw.) gegenüber den jüdischen Honoratioren und Politikern häufig radikalisierte Invektiven verwendet, indem z.B. Ungeziefer platziert oder Haustüren mit Kot beschmiert wurden, um so Ekel zu erzeugen.
Die Betroffenen und ihre Familien waren durch diese Hetzreden, Boykottaufrufe und Schmähkampagnen schweren psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt, die sich häufig pathologisch auswirkten. Die Methodik der Untersuchung orientiert sich an den analytischen Werkzeugen, welche die Emotionsgeschichte und die Praxeologie zur Verfügung stellt. Als Quellenbestände dienen vor allem Gerichtsakten von Beleidigungsprozessen, fallbezogene zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften sowie Selbstzeugnisse von Opfern und Tätern.
Bearbeitung des Arbeitsbereichs: Dr. Silke Fehlemann
Arbeitsbereich B
"Beleidigungen als gerichtlicher Verhandlungsgegenstand, 1924 – 1938"
Die Zahl gerichtlicher Beleidigungsverfahren sanken während der Weimarer Republik im Vergleich zum Deutschen Kaiserreich. Gleichwohl wurde die erste deutsche Demokratie von den Zeitgenossen als schmähintensive Zeit wahrgenommen. Die Erfahrung von Hetze konstituierte sich – so die These des AB – vor allem durch die intensiven Gefühle, die mit den Herabwürdigungen verbunden waren. Wie Beleidigungen sich konkret entwickelten, wer wen in welchen Kontexten, mit welchen Praktiken beleidigte, wann und wie diese Beleidigungen angezeigt und verfolgt wurden, welches Emotionsregime sich daraus ableiten lässt, und wie sich Gefühle und Schmähkultur veränderten, wird mittels sächsischer und Berliner Beleidigungsverfahren verfolgt.
Insgesamt wurden 278 Fälle aus Amts-, Schöffen-, Land- und Sondergerichtsakten sozialhistorisch ausgewertet. Ergänzt wurde das Quellenkorpus durch fallbezogene zeitgenössische Gesetze, Zeitungen und juristische Fachzeitschriften.
Das Invektivprofil der Beteiligten zeigt vor allem Männer in ihren 40er Jahren, das Berufsspektrum der Beleidiger umfasste unter anderem Arbeiter, Angestellte, Journalisten; zu den Invektierten zählten vor allem Beamte und Politiker, die häufig wegen (vermeintlicher) sexueller Ausschweifungen, Inkompetenz, Inkonsequenz, (unterstelltem) fehlenden Kriegsdienst, ihres Alters geschmäht wurden.
Herabsetzungen wurden in der Weimarer Republik stets mit großer zeitlicher Verzögerung gerichtlich geahndet und konnten damit selten mit juristischen Mitteln durchbrochen werden. Dabei spielte die Gerichtsberichterstattung eine wichtige Rolle, denn sie hielt die Herabsetzung lange Zeit in der öffentlichen Wahrnehmung lebendig. Auch politische Einflussfaktoren konterkarierten gerichtliche Einhegungsversuche von Beleidigungen. So führten z. B. Amnestien dazu, dass Beleidigungsverfahren gänzlich eingestellt oder Verurteilungen annulliert wurden, so dass sich die Betroffenen nur unzureichend geschützt fühlten, während die Beleidiger davon profitierten.
Die Nationalsozialisten sorgten mit rechtlichen Novellierungen (sogenannte „Schutzhaft“, Einführung des Heimtückegesetzes 1934 etc.) dafür, dass es zunehmend gefährlicher wurde, staatliche oder parteiamtliche Repräsentanten oder Symbole lächerlich zu machen. So sanktionierten beispielsweise die 1933 auf Basis der Reichstagsbrandverordnung vorgenommenen KZ-Inhaftierungen zahlreiche Beleidigungen staatlicher Repräsentanten schon vor den eigentlichen Gerichtsverhandlungen und zielten darauf, die Angeklagten einzuschüchtern und Verfahrensverzögerungen zu vermeiden, indem der invektive Zirkel bereits vor Beginn der Gerichtsprozesse unterbrochen wurde. Da die Herabwürdigungen von ausgegrenzten Gruppen, Regimekritikern und sog. „Volksfremden“ offiziell praktiziert und immer seltener justiziabel waren, wurde das Recht auf die Invektive einerseits zum Privileg und Signum der Macht. Gleichzeitig fühlte sich das NS-Regime teilweise durch kleinste Witzeleien empfindlich bedroht, die es mit martialischen Strafen ahnden konnte.
Bearbeitung des Arbeitsbereichs: Christiane Steigel