Makro- und mikroskopisch kombinierte Risikoanalyseverfahren im Luftverkehr auf Basis technischer, verfahrensbedingter und menschlicher Leistungsmerkmale mit minimiertem Parameterraum
Sicherheit genießt in der zivilen Luftfahrt hohe Priorität. Die uneingeschränkte Gewährleistung derselben war, ist und bleibt eine beständige Herausforderung denn die fortschreitende Technologieentwicklung sowie in Wandlung befindliche Zielsetzungen (siehe Forschungsprojekt MEFUL) verlangen nach einer kontinuierlichen Optimierung. Während die klassischen Zielfunktionen (Wirtschaftlichkeit, Durchsatz, etc.) vergleichsweise einfach zu bemessen sind, ist die Sicherheitsbewertung anspruchsvolle Expertenarbeit. Trotz langfristig gewachsenen und entsprechend gut standardisierten Methoden und Techniken sind Sicherheitsbewertungen immer noch stark von den ausführenden Experten geprägt und damit nur begrenzt objektiv. Dies betrifft insbesondere den Bereich bisher unvorstellbarer und unbekannter Gefahren und Versagensmodi.
In der ersten, 3-jährigen Projektphase ("Quantitative, simulationsgestützte Risikoanalyseverfahren") wurde ein Risikobewertungsmodell konzipiert, welches diese Lücke mittels agentenbasierter (Schnellzeit-)Simulation schließen soll. Hierzu wurden technische, verfahrensbedingte und menschliche Leistungsmerkmale des Luftverkehrssystems speziell für den komplexen Flughafennahbereich (TMA) auf ihre Sicherheitswirkung hin untersucht und in Modelle überführt, deren komplexes Zusammenwirken eine graduelle Verschlechterung der erzielten Sicherheit erklären und vorhersagen kann (emergentes Verhalten agentenbasierter Modelle).
In der jetzigen, ebenfalls 3-jährigen Projektphase ("Makro- und mikroskopisch kombinierte Risikoanalyseverfahren mit minimiertem Parameterraum") wird untersucht, wie die Vorhersage von sehr seltenen Sicherheitsereignissen zielgerichteter gestaltet und damit beschleunigt werden kann. Hierfür wurden verschiedene Ansätze identifiziert:
- Zerlegung des Modells in eine agentenbasierte mikroskopische Komponente, welche sozio-technisches Versagen mittels Emergenz nach Monte-Carlo Ansatz aufzeigt und eine probabilistische makroskopische Komponente, welches technisches und verfahrensbedingtes Versagen mittels Integrationsrechnungen determiniert,
- Eingrenzung des Parameterraums durch Sensitivitätsanalysen und Expertenurteile,
- Weiterentwicklung und Anwendung von Sampling-Heuristiken auf das Monte-Carlo Problem (z.B. Stratified Sampling) und
- Optimierung für und Berechnung auf Hochleistungsrechentechnik des Zentrums für Informationsdienste und Hochleistungsrechnen (ZIH) der TU Dresden.
Unabhängig von der numerisch notwendigen Eingrenzung des Parameterraums werden die Modelle der hoch sensitiven Einflussfaktoren weiter präzisiert und schrittweise validiert um eine praxisgerecht belastbare Ergebnisqualität zu erreichen. Dies betrifft im Wesentlichen
- die Bestimmung tatsächlicher Navigationsgenauigkeiten unter dem Einfluss von technischen und verfahrensbedingten Parametern (z.B. Flugleistung, Atmosphäre, Ortungs- und Steuerungsverfahren sowie ?Technologie),
- Quantifizierung der Zeitaufwände für menschliche Planungs- und Bedienhandlungen sowohl cockpit- als auch bodenseitig und
- Abbildung der systemimmanenten Kausalitäten im Bereich der Sequenzbildung von Verkehrsströmen als Resultat von Koordinationshandlungen.
Ausgangspunkt für die Arbeiten ist ein an der Professur entwickeltes quantitatives Bewertungsverfahren für die Luftverkehrssicherheit aus rein technischer Sicht. Mittels empirischer Analysen von Flugleistung und Navigationstoleranzen heute eingesetzter Luftfahrzeugtypen wurden deterministische und stochastische Zusammenhänge ermittelt, welche eine Vorhersage der zu erwartenden Kollisionswahrscheinlichkeit (Luft-Luft, Luft-Boden) zulassen. Anstatt die, je nach Navigationsverfahren unterschiedlichen, Navigationstoleranzen anhand gesetzlicher Mindestvorgaben (RNP ? Required Navigation Performance) zu modellieren, werden diese auf Basis der tatsächlich erreichbaren Navigationsgenauigkeit (ANP ? Actual Navigation Performance) empirisch ermittelt. Hierbei konnte durch Analysen von Flugspurdaten der Flugsicherung (sog. FANOMOS Daten) nachgewiesen werden, dass die tatsächlichen, im operativen Betrieb erreichten Navigationsgenauigkeiten deutlich höher sind, als die Forderungen nach RNP-Konzept (vgl. Thiel, ICRAT 2010; Thiel, ICRAT 2012). Neueste Modellerweiterungen, basieren dabei auf einer statistischen Auswertung der FANOMOS Daten, die spezifische Verteilungsfunktionen für die Streuungen um den Sollflugpfad in den Randbereichen der Verteilung modellieren (sog. tail modelling). Diese spezifische Randbereichsmodellierung berücksichtigt somit explizit jene weit vom Sollflugpfad entfernten, seltenen Ereignisse, die aber im Rahmen der Kollisionsrisikobestimmung von zentraler Bedeutung sind.
Im Rahmen des Projekts wurde weiterhin eine Software zur Berechnung und Visualisierung der lokalen Verteilung des systemweiten Kollisionsrisikos implementiert, welche eine visuelle Analyse der Ergebnisse unterstützt und damit die Identifikation von riskanten Vorgängen und die Diskussion dieser mit Experten ermöglicht.
Um den Einfluss verfahrensbedingter Faktoren zu berücksichtigen, wurde eine agentenbasierte Simulation für die heutigen Vorgänge im Flughafennahbereich (TMA) erstellt und iterativ zu immer komplexeren und realitätsnahen Szenarien ausgebaut. Im direkten Fokus stehen die Herstellung und Erhaltung von Sequenz und Separation landender Luftfahrzeuge (Staffelung) sowie die Konfliktvermeidung und -lösung gegenüber abfliegenden Luftfahrzeugen unter dem Einfluss der modellierten risikowirksamen Einflussfaktoren. Die nebenstehenden Abbildungen zeigen beispielhaft Flugspuren verschiedener Anflugverfahren (RNAV Transitionen in klassischer Form sowie zwei Varianten eines sogenannten Point-Merge Verfahrens). Das bisherige Framework für die Implementierung, AGlobe & AgentFly des Agent Technology Centers der CTU Prag, soll nun durch eine laufzeit-optimierte und besser mit der Makro-Komponente verzahnten Lösung abgelöst werden.
Menschliche Leistungsmerkmale wurden zuerst mittels sog. Komplexitätsfaktoren untersucht. Diese beabsichtigen, den Arbeitsaufwand für menschliche Fluglotsen direkt aus einer gegebenen Verkehrssituation abzuleiten. Der wissenschaftliche Status Quo wurde im Rahmen des Projekts für den Flughafennahbereich adaptiert. Infolgedessen konnten deutlich stärkere Korrelationen (als bisher bekannt) aufgezeigt werden, jedoch allein für den definitorisch richtigen Aspekt der simulierten Arbeitsbelastung. Ein Zusammenhang zur resultierenden Sicherheit hingegen ist erwartungsgemäß nicht zuverlässig zu belegen.
Zur Parametrierung der agentenbasierten Simulation wurden diverse Studien im Flugsimulationslabor der Professur durchgeführt, welche das Ziel hatten, die zeitliche Reaktion der Cockpit-Crews auf Lotsenanweisungen empirisch hoch verlässlich zu bestimmen. Die nebenstehenden Abbildungen zeigen exemplarisch Abhängigkeit der sog. Bedienreaktionszeit (Reaktionszeit + Bedienzeit) von der angewiesenen Wertänderung (Kurs, Flughöhe, Geschwindigkeit entlang der X-Achse) sowie die aus situativen und individuellen Faktoren resultierende Streuung (entlang der Y-Achse).
Zur Bestimmung eines reduzierten und damit bezüglich des bestehenden Sampling-Problems (Kombinatorik des Ereignisbaums) optimierten Parameterraums sind folgende Aktivitäten, teils in Ergänzung zur Erforschung und Modellierung der Risiko-Einflussfaktoren (oben) vorgesehen:
- Experten- und literaturgestützte Analyse risikorelevanter Parameter
- Durchführung und Auswertung von Sensitivitätsanalysen
- Validierung mit Hilfe von Realdaten (echte oder simulierte Flugspuren) und Expertenurteil
- Interdependanzanalyse zwischen Makro- und Mikro-Modellkomponente
Die Schritte zielen auf eine signifikante Reduktion des zu untersuchenden Parameterraum bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Validität des Modells zur der Vorhersage von Sicherheitsereignissen ab. Dies zieht eine Quantifizierung des Fehlers bei jeder Reduktion nach sich, welche vor allem mittels Sensitivitätsanalysen gewährleistet werden soll.
Die Durchführung von Monte-Carlo Simulationen auf Hochleistungsrechentechnik wird derzeit methodisch und inhaltlich vorbereitet. Der derzeitige Stand der Erkenntnisse beläuft sich auf:
- Implementierung hoch effizienter Software für die Berechnung einer Replikation (Single Thread Implementierung)
- Implementierung eines Monte-Carlo Frameworks welches mit der Berechnung von Replikationen je einen Rechenknoten voll auslastet
- Entwicklung von Szenarien und Implementierung einer automatischen Arbeitslastverteilung auf N Rechenknoten, welche mit dem Batch Job Scheduler des ZIH integriert wird
- Anwendung von Simulationsheuristiken und Sampling-Strategien
- Implementierung von Ergebnismetriken und Methoden zur teil-automatisierten Aggregation aller berechneten Replikationen
- Abschätzung der inhaltlich benötigten Anzahl von Replikationen zur Bestimmung praxisgerechter Sicherheitsaussagen (Problem der Rechts-Zensierung)
Vogel, M., Thiel, C. und Fricke, H. (2015)
Experimental Quantification of Times Needed to Comply With Air Traffic Control Advisories (FCU & MCDU Interaction), SESAR Innovation Days, Bologna
Vogel, M. und Fricke, H. (2015)
Ermittlung von Bedienreaktionszeiten bei der Umsetzung von Flugsicherungsanweisungen – Probandenversuche am A320 Forschungssimulator, Dresdner Transferbrief 1.15; 22. Jahrgang, E-Journal
Vogel, M., K. Schelbert, H. Fricke und T. Kistan (2013)
Analysis of Airspace Complexity Factors Capability to Predict Workload and Safety Levels in the TMA, USA/Europe Air Traffic Management Research and Development Seminar (ATM Seminar), Chicago
Vogel, M., C. Thiel und H. Fricke (2012)
Simulative Assessment of Reduced Lateral Separation Minima for the Terminal Airspace, International Conference on Research in Air Transportation (ICRAT), Berkeley
Schelbert, K., M. Vogel, C. Thiel und H. Fricke (2012)
Adapting Enroute ATM Complexity Metrics for Terminal Airspace Safety Assessments, International Conference on Research in Air Transportation (ICRAT), Berkeley
Thiel, C., C. Seiss, M. Vogel und H. Fricke (2012)
Safety Monitoring of New Implemented Approach Procedures by Means of Radar Data Analysis, International Conference on Research in Air Transportation (ICRAT), Berkeley
M. Vogel und H. Fricke (2012)
Investigating the safety impact of time buffers in current TMA arrival operations, Congress of the International Council of the Aeronautical Sciences (ICAS), Brisbane
Vogel, M., C. Thiel und H. Fricke (2012)
Assessing the Air Traffic Control Safety Impact of Airline Pilot induced Latencies, International Conference on Application and Theory of Automation in Command and Control Systems (ATACCS), London
Vogel, M., C. Thiel und H. Fricke (2010)
A Quantitative Safety Assessment Tool Based on Aircraft Actual Navigation Performance, International Conference on Research in Air Transportation (ICRAT), Budapest
C. Thiel und H. Fricke (2010)
Collision Risk on Final Approach – A Radar Data Based Evaluation Method to Assess Safety, International Conference on Research in Air Transportation (ICRAT), Budapest
C. Thiel und H. Fricke (2008)
Assessment of local aircraft crash risk, International Conference on Research in Air Transportation (ICRAT), Fairfax