Projektbeschreibung
"Invektive Inszenierungen. Verbale Herabsetzungen in der römischen Gesellschaft des 1. Jh. v. Chr. zwischen literarischer Tradition und fingierter Mündlichkeit"
Im Mittelpunkt der Arbeit des TP B (Klassische Philologie) stehen die Invektiven Ciceros, in erster Linie die Verrinen, die oratio in Pisonem sowie die Philippischen Reden, und zwar vor allem mit Blick auf die Spannungen, die sich daraus ergeben, dass diese Texte zwar rhetorischen Regeln folgen, die performativen Aspekte ihrer Präsentation aber ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Diese allgemeine Ausgangslage wird im Falle antiker Reden dadurch noch komplexer, dass wir sie nur in der Version kennen, die ihr Autor später publiziert hat, so dass alle Elemente der Mündlichkeit zwangsläufig schriftlich vermittelt sind. Dennoch ruft Cicero den sozialen Kontext oft nachdrücklich in Erinnerung, z.B. indem er sein Gegenüber oder das Publikum anspricht oder auf ihre Einwände einzugehen scheint.
Da sich die gleichen Strategien auch in den Reden finden lassen, die Cicero nie gehalten hat, liegt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei weniger um Reflexe einer echten Präsentation, sondern um eine bewusst eingesetzte sprachliche Technik handelt, die als artifizielle Mündlichkeit oder als scheinbare Spontaneität beschrieben werden kann. Diese Strategie ist der dissimulatio artis verwandt und zielt darauf ab, die Wirkung einer rhetorischen Äußerung gerade durch das Verbergen der ihr zugrundeliegenden Kunstfertigkeit zu steigern (ausführlicher dargelegt u.a. im Beitrag von Prof. Dennis Pausch zur Tagung "Invektive Gattungen").
Die Verwendung sprachlicher Elemente, die auch in schriftlichen Texten dazu dienen, eine face-to-face-Situation zwischen dem Redner, seinem Gegenüber und dem Publikum zu erzeugen, hat sich daher als eine allgemeine Strategie invektiven Sprechens erwiesen (diese Thematik wurde generell intensiv in der AG Formen- und Medienwandel diskutiert). Ihre Wirkungen liegen auf verschiedenen Ebenen, von denen sich die beiden wichtigsten auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen: Das Einblenden einer Situation, in der die Beleidigung vermeintlich in der 2. Person Singular an einen konkreten Adressaten gerichtet wurde, steigert die Intensität der sprachlichen Aggression, unter anderem indem der Sprecher durch das Evozieren einer realen Konfrontation eine mutigere und aufrichtigere Rolle für sich in Anspruch nimmt („das habe ich ihm ins Gesicht gesagt“). Der gleiche Verweis auf den imaginierten Kontext kann aber auch eine entlastende und rechtfertigende Funktion übernehmen, zumal wenn eine Eskalationsdynamik oder eine emotionale Zuspitzung als Grund für das eigene Handeln plausibel gemacht wird („da habe ich die Contenance verloren“).
Für das bessere Verständnis dieser zentralen invektiven Technik hat sich eine vertiefte Beschäftigung mit der Rolle von Emotionen in konkreten Situationen sowie mit ihrer Simulation in literarischen Schilderungen als zentral erwiesen. Diese erfolgte sowohl in verschiedenen Formaten des SFB (nicht zuletzt im Rahmen der Theorie-AG) als auch im Rahmen der Kooperation mit Prof. Douglas Cairns (Edinburgh), einem anerkannten Experten für die interdisziplinäre Erforschung der Emotionen in der Antike, und hat ihren Ausdruck unter anderem in der Organisation der internationalen Tagung "Ciceronian Invective. Emotions, Reactions and Performance" gefunden, deren Ergebnisse aktuell zur Publikation vorbereitet werden.