Projektbeschreibung
"Theater der Diskriminierung. Darstellung und Reflexion invektiver Dynamiken in Gegenwartstheater, Performance und Aktionskunst“
Das Teilprojekt betrachtet Theater als Resonanzraum bzw. Evokationsfeld von Invektivität, in dem invektive Interaktionskonstellationen affektiv, perzeptiv und reflexiv fassbar werden. Es fragt einerseits danach, welche Mittel zeitgenössische theatrale Formen nutzen, um soziale und politische Diskriminierung kritisch durchzuspielen. Andererseits stellt es diese Analysen in einen historischen Kontext und interessiert sich dafür, wie das Theater im 20. und 21. Jahrhundert in seinen Politiken von Adressierung, Vermittlung und Rezeption selbst invektive Mechanismen reproduziert, aber auch vor dem Hintergrund wechselnder Medienkonjunkturen kritisiert.
In ihrer Verschränkung von sozialer und ästhetischer Praxis dienen Theater, Performance und künstlerische Aktion zugleich als Gegenstand und Instrument einer mit herabsetzender, beschämender Adressierung und Disponierung verkoppelten Reflexion invektiver Gegenwartskonstellationen. Mit Blick auf mediengeschichtliche Entwicklungen und deren Einflussnahmen auf das Theaterdispositiv (etwa Kino, Fernsehen oder Social Media) stehen vornehmlich visuell operierende theatrale Strategien der Verfremdung, Asymmetrierung oder Verschiebung (etwa Praktiken des „black resp. white facing“; Expositionen von politisch prekären Körpern, von disabled persons oder von vereinzelten wie kollektivierten Zuschauenden) im Vordergrund. Dabei werden sowohl politische Potenziale als auch mögliche blinde Flecken der theatralen Ausstellung invektiver gesellschaftlicher Praxis ausgelotet (z. B. die invektive Essentialisierung von Körpern als „behinderte“ oder „migrantische“). Besonders das invektive Moment des Zuschauens wird dazu forciert. Aus den Zuschauenden werden Beobachtende der eigenen Beobachtungsfähigkeit und das heißt ihrer Identitäts- und Sozialitätsbedingungen. Die exemplarischen Analysen reichen von Brecht und Horváth über Handke, Fassbinder zu Christoph Schlingensief, SIGNA, Milo Rau und vielen anderen.
In einer kollektiven Monografie des Teilprojekts liegt ein weiterer Fokus auf dem Verhältnis von Invektivität und Kritik. Weil Theater die Teilnahme und Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen in Form einer ästhetischen Praxis sozialer Positionierung explizit oder implizit austrägt, birgt es das Potenzial nicht nur zu einer Kritik von Gesellschaft, sondern auch zu einer theatralen Möglichkeit von Kritik, die Theater aufgrund seiner „Existenzweise“ besitzt. Gerade wenn die theatrale Ordnung durch Verschiebungen, Verfremdungen, Asymmetrierung oder explizite An- und Übergriffe destabilisiert wird, realisiert Theater sein kritisches Potenzial.
Es nutzt seine Möglichkeit zur invektiven, das heißt herabsetzenden, diskriminierenden, beschämenden Adressierung und Disponierung, um Positionen vermeintlicher Deutungssicherheit und Handlungsautonomie auszusetzen und so sichtbar zu machen, wie Diskurs- und Normalitätsregime Wahrnehmung konstituieren: Theater also, das das Momentum des Invektiven nicht nutzt, um den Gegenstand der Kritik herabzusetzen und sich dadurch zu legitimieren, sondern um sich selbst infrage zu stellen. Das Theater der Herabsetzung wäre dann Gegenstand und Instrument der Kritik zugleich, theatrale Herabsetzung und theatrale Kritik bedingten und ermöglichten einander wechselseitig.