Pamphlete, Pasquille und Parolen. Invektive Dynamiken frühneuzeitlicher Öffentlichkeit
Das Teilprojekt untersucht Konstellationen der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit in ihren invektiven Kommunikationsformen. Damit wendet es sich gegen das einschlägige Postulat, Öffentlichkeit sei primär ein Produkt deliberativer Kommunikationsakte. Entgegen diesem Modell einer aufgeklärt-bürgerlichen Öffentlichkeit untersucht das Projekt exemplarisch, wie Schmähungen, Beleidigungen und Herabsetzungen im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung auf unterschiedlichen Kommunikationsebenen und über verschiedene Medien, Arenen und Praktiken hinweg das Sprechen bzw. Schreiben mit-, über- und gegeneinander prägte, wie sprachliche und symbolische Herabsetzungen die religiösen, politischen und sozialen Debatten befeuerten und welches Potenzial invektive Kommunikation zur Dynamisierung öffentlich geführter Auseinandersetzungen besaß.
Das Projekt entwickelt die These, dass Invektivität im 16. Jahrhundert ein entscheidender Transmissionsriemen war, um erstens intermediale Bezüge herzustellen, zweitens raumzeitlich getrennte Arenen und Praktiken miteinander zu vernetzen und drittens unterschiedliche Akteure und soziale Gruppen in Verbindung zu bringen. Diese invektiv geprägte Vernetzung und Verdichtung von Bezügen trug entscheidend zur Konstituierung einer Öffentlichkeit neuer Qualität bei, die sich nicht in der Unterscheidung von sachlicher Informationsvermittlung einer periodischen Presselandschaft des 17. Jahrhunderts einerseits und einer vermeintlich propagandistischen Meinungsvermittlung der Flugschriftenpublizistik des 16. Jahrhunderts andererseits auflöst.
Um die Potenziale von Invektivität für die Konstituierung von Öffentlichkeit präziser herauszuarbeiten und damit bislang unabhängig voneinander behandelte Themenfelder inhaltlich und konzeptuell miteinander zu verschränken, nimmt das Projekt anhand konkreter Konstellationen und Konfliktfelder das gesamte frühneuzeitliche Medienensemble (Oralität, Performativität, Druck, Handschrift, Bild) in den Blick.
Arbeitsbereich A1 (Alexander Kästner)
Das Projekt untersucht die invektiven Dynamiken der frühreformatorischen Öffentlichkeit am Beispiel von Konflikten im Erzgebirge, ca. 1519-1524. Im Zentrum steht die Frage nach intermedialen Bezügen insbesondere von Briefen, Schmähzetteln, Flugschriften und „Aktionen“.
Arbeitsbereich A2 (Wiebke Voigt)
Der Arbeitsbereich beschäftigt sich mit Öffentlichkeit in der frühen Reformationszeit am Beispiel ausgewählter – sowohl virtuell als auch reell ausgefochtener – politisch-religiöser Konflikte von 1521 bis zum sogenannten „deutschen Bauernkrieg“ im Spiegel ihrer flugpublizistischen Aufarbeitung und Inszenierung.
Anhand exemplarischer Streitzusammenhänge, von fiktiven Reformationsdialogen über handfeste interkonfessionelle Auseinandersetzungen bis hin zu innerreformatorischen Grabenkämpfen, wird u.a. untersucht, wie sich eine überregionale und schichtübergreifende Öffentlichkeit in adressaten- und ereignisbezogenen Kontexten überhaupt konstituierte, dabei verschiedene Kommunikationsräume und -kreise miteinander vernetzte, (proto-) konfessionelle Exklusions- und Inklusionsprozesse in Gang setzte und so den Gesamtverlauf der frühen 1520er Jahre entscheidend mitprägte. Ob und inwiefern diese druckmedialen Konflikte, so die Ausgangshypothese des Projekts, in einem grundlegend invektiven Modus ausgetragen wurden, und welche Auswirkungen dies ggf. für Genese und Charakter dieser „frühreformatorischen“ Form von Öffentlichkeit hatte, bilden zentrale Leitfragen des Dissertationsvorhabens.
Arbeitsbereich A3 (Stefan Beckert)
Der Gegenstand des kommunikationsgeschichtlich ausgerichteten Dissertationsprojekts ist die Streitschriftenfehde um Herzog Heinrich den Jüngeren, Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen um 1540. Ziel des Projekts ist es, ein besseres Verständnis der Öffentlichkeit des 16. Jahrhunderts, ihrer politischen Trägerschichten und deren Nutzung öffentlicher Kommunikation zu entwickeln. Den ereignisgeschichtlichen Ausgangspunkt dafür bildet ein Konflikt zwischen mehreren hochadligen Herrschaftsträgern der späten Reformationszeit, der anhand einer Konstellationsanalyse näher erschlossen wird. Die konfessionell ambige Situation vor dem Augsburger Religionsfrieden erschuf, so die Hypothese aufbauend auf den Ergebnissen der politischen Geschichte der 1540er Jahre, einen besonderen Raum für Öffentlichkeit. Dazu werden Flugschriften, als auf Öffentlichkeit zielende Quellen mit der archivalischen Überlieferung der an der Streitschriftenfehde beteiligten Fürsten heuristisch verknüpft. Die Auswertung erfolgt anhand exemplarischer Schlaglichter, die sich an den in den Drucken enthaltenen Invektiven orientiert und den Momenten, in denen die Druckschriften, Invektiven oder deren Folgen innerhalb der Fürstenkorrespondenzen reflexiv werden.
Gefragt wird unter anderem danach, welche Rolle öffentliche Kommunikation im Kontext der Reichstage spielte, welche Bedeutung druckmedial informierten Öffentlichkeiten im sich konfessionalisierenden Konflikt zukam, warum Fürsten und Obrigkeiten gezielt empfängeroffen und dadurch über den eigentlichen Kreis der Entscheidungsträger des Reiches, die reichstagsberechtigten Obrigkeiten, hinaus kommunizierten, welche Bedeutung Informationspolitik in einer Zeit der ‚Systemkrise‘ (Luttenberger) besitzen konnte – wie Druckschriften also gezielt im politischen Konflikt genutzt und darüber Öffentlichkeit mobilisiert oder wie über herabsetzende öffentliche Kommunikation Weltdeutungsmuster, ständische Positionen und Ehrvorstellungen verfestigt und angegriffen wurden.
Arbeitsbereich B1 (Gerd Schwerhoff)
Das Projekt erarbeitet anhand der Begriffs- und Realgeschichte des ‚Pasquills‘ die Bedeutung von Texten, die sich dieses Etiketts als Gattungsbezeichnung bedienten und an der Schnittstelle von Anwesenheits- und Medienkommunikation angesiedelt waren.
Arbeitsbereich B2 (Jan Siegemund)
Der Arbeitsbereich fokussiert auf die Praxis der Anfertigung und Verbreitung von Schmähschriften und seine Wirkungsweise in unterschiedlich gelagerten Kommunikations- und Konfliktkontexten, die in mikrohistorisch perspektivierten Fallstudien untersucht werden.
Von Interesse sind die Funktionen der Schmähschriften als Instrumente des Konfliktaustrags sowie die Effekte, die sie dabei zeitigten. Damit eng verbunden ist die Frage nach den Mechanismen öffentlicher Kommunikation: Wie ließ man mit der Schmähschriftenpraxis situativ Öffentlichkeit entstehen, die dann wiederum Einfluss auf die Konfliktdynamik nahm? Und welche Strukturen werden in diesen Momenten des „Aufglühens“ frühneuzeitlicher Öffentlichkeit reflexiv und somit beschreibbar? Inwiefern werden konkurrierende Rechts- und Sozialnormen im Umgang mit „Pasquillanten“ sichtbar?
Bei der Betrachtung des Alltagsphänomens „Schmähschrift“ geraten vor allem handschriftliche Verbreitungsformen und ihre wechselseitige Verbindung zu Gerücht und Gerede als der relevantesten Formen mündlicher Kommunikation in den Blick. Untersuchungsgrundlage sind kursächsische Fälle aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.