Vom Akademischen Koordinierungszentrum der Euroregion Neiße zum mitteleuropäischen Campus
IHI-Direktor Prof. Thorsten Claus und Prof. Aleš Kocourek, Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der TU Liberec, sprechen über Gegenwart und Vision der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit
IHI Newsletter: Herr Professor Claus, mitten in der Pandemie und damit einer Zeit nur virtueller grenzüberschreitender Zusammenarbeit, sind Sie zum neuen Präsidenten des Akademischen Koordinierungszentrums der Euroregion Neisse (ACC) gewählt worden. Was haben Sie in diesem Amt vor und was konnten Sie bislang unter den beschriebenen Umständen initiieren?
TC: Zunächst freue ich mich über das Vertrauen, das mir die Mitglieder des ACC entgegenbringen. Das ACC wurde im Jahre 1991 in der Euroregion Neiße gegründet. Mittlerweile wirken praktisch alle Hochschulen des tschechisch-deutsch-polnischen Grenzgebiet mit, um die Lehre, die Forschung und den Transfer zu koordinieren. Von Anfang an lebte diese Initiative von engagierten Enthusiastinnen und Enthusiasten, die teilweise ihrer Zeit weit voraus waren. Die EU-Osterweiterung wurde schließlich erst im Jahr 1997 angestoßen, die Bologna-Reform, welche ein länderübergreifendes Studieren wesentlich vereinfachte, sogar erst 1999.
Aus rein deutscher Perspektive hat die Oberlausitz eine Randlage mit vielen strukturellen Problemen. Ich bin daher fest davon überzeigt, dass eine positive Entwicklung der Oberlausitz nur in Verbund mit unseren Nachbarn funktionieren kann. Wir müssen möglichst viele Verbindungen zu den Nachbarstaaten aufbauen, um das gemeinsame Potential zu nutzen. So wird aus einer Randlage ein Zentrum. Hier kommt das ACC ins Spiel: Das ACC ist Plattform, über die bereits eine Zusammenarbeit im Hochschulbereich gut funktioniert. Neben dem ACC-Journal sind hier im Wesentlichen regelmäßige gemeinsame Konferenzen zu nennen.
Nun ist im letzten Jahr der gemeinsame Studiengang „Internationales Management“ des IHI Zittau und der HSZG mit der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der TU Liberec angelaufen. Absolvent:innen halten am Ende Ihres Studiums eine tschechische und eine deutsche Urkunde in der Hand. Die ersten Erfahrungen sind sehr vielversprechend, trotz der widrigen Zeitumstände, unter denen sich die Studierenden lediglich virtuell kennenlernen konnten, anstatt, wie geplant, regelmäßig zwischen beiden "Campi" und Ländern hin und her zu pendeln. Gerade die Resonanz auf der tschechischen Seite begeistert uns. Ich bin überzeugt, dass dieser Studiengang Modellcharakter für weitere Kooperationen besitzt, die am Ende in einem Central European Campus Neisse/Nysa/Nisa nach dem Vorbild des bereits einige Jahrzehnte existierenden deutsch-französisch-schweizerischen Europäischen Campus Oberrhein (EUCOR) aufgehen könnten.
Leider ruht die Kooperation bislang auf den Schultern einiger weniger, miteinander vernetzter und an der Zusammenarbeit begeisterer Personen. Wir benötigen eine Zusammenarbeit auf breiteren Füßen, mit deutlicch mehr gemeinsamen Lehrmodellen aber auch mit mehr Zusammenarbeit auf den Gebieten Forschung und Transfer. Allen akademischen Akteuren im Dreiländereck muss bewusst werden: Hier geht es um unsere gemeinsame Zukunft, wir können nur zusammen bestehen!
Erste Schritte in diese Richtung sind bereits eingeleitet: Im September begeben wir uns in Klausur, um die Ziele zu definieren und konkrete Vorhaben für das ACC weiterzuentwickeln. Derartige Veranstaltungen führen nur in Präsenz, „face to face“ zu einem Erfolg. Virtuelle Formate, so sehr wir uns auch an sie gewöhnt haben, können nur bereits eingeführte Systeme stabil halten. Meine Amtszeit beträgt drei Jahre, wovon ein halbes Jahr bereits wegen der geschilderten Umstände verstrichen ist. Hier zahlen wir leider einen großen Tribut an die Pandemie.
IHI Newsletter: Herr Professor Kocourek, die TU Liberec ist Gründungsmitglied des ACC. Welche Vorteile sehen Sie in der Mitwirkung und welche Erwartungen haben Sie?
AK: Aufgabe des ACC ist es, euroäische Hochschulpolitik und den europäischen Gedanken zu vertreten und in der Euroregion zu koordinieren. Ich halte das für ein ganz grundlegendes Ziel, gerade in einer Welt, in der fundamentale Regeln und gemeinsame Werte von Demokratie und Humanismus durch Populismus, Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Korruption unterminiert werden. Hochschulen sind die traditionellen Vermtittler grundlegender moralischer Werte und ihre unersetzliche Schlüsselaufgabe ist die Kultivierung der Gesellschaft. Die internationale Zusammenarbeit zwischen Hochschulen bringt zahlreiche wertvolle Vorteile mit sich: Sie stärkt die Stellung der einzelnen Institutionen, inspiriert und erleichtert das Teilen von best practices, erweitert die Horizonte nicht nur der Studierenden sondern auch der akademischen und Verwaltungsmitarbeiter:innen, indem sie neue Freundschaften initiiert und Brücken zwischen Kulturen und Gesellschaften errichtet. Internationale Zusammenarbeit ist die DNA der europäischen Integration, darum bin ich sehr stolz darauf, dass wir eines der Gründungsmitglieder des ACC sind.
Meine Erwartungen an die Weiterentwicklung des ACC gehen in zwei Richtungen: 1.) internationale Forschung und 2.) Studierendenmobilität.
- Ich möchte mehr gemeinsame Forschungsprojekte, mehr gemeinsame wissenschaftliche Publikationen und mehr internationale Forscherteams sehen. Wir haben so interessante Forschungsgebiete, in denen wir kooperieren könnten - das ist unsere große Chance und auch ein immenser Vorteil!
- Ich würde gerne mehr internationale Studierende in den Seminarräumen der Euroregion sehen - nicht nur deutsche, polnische oder tschechische Studierende, sondern junge Menschen aus aller Welt. Es ist unsere Aufgabe, kreative Studierende zu gewinnen, die global denken und verantwortlich handeln, und ihnen moderne Studienprogramme anzubieten, in denen exzellente akademische Lehrer aus verschiedenen Ländern unterrichten. Das ist der Kern der Europäischen Hochschulinitiative und ich bin davon überzeugt, dass Double-, Mehrfach- oder Joint-Degree-Programme ein hervorragendes Mittel hierfür sind.
IHI Newsletter: Sie betonen die Bedeutung des angelaufenen Double Degree-Programms mit der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der TU Liberec und sprechen hier sogar von einem „Central European Campus Neisse/Nisa“. Können Sie uns die dahinterstehende Vision erläutern?
TC: Wir müssen die Grenzen in unseren Köpfen niederreißen! Nur wenn es uns gelingt, den Studierenden das Gefühl zu vermitteln, dass sie in einer attraktiven, transnationalen Euroregion studieren und nicht in irgendeiner beliebigen deutschen, polnischen oder tschechischen Provinzregion, haben wir eine Chance im Wettbewerb um die besten Köpfe.
IHI Newsletter: Herr Kocourek, Sie sind der wesentliche Kooperationspartner bei diesem Programm. Teilen Sie diese Überzeugung. Anders gefragt: Welche strategische Bedeutung hat das Projekt für Sie?
AK: Absolut. Die Euroregion Neiße ist ein attraktiver Studienort mit zahlreichen exzellenten Hochschulen und die Tatsache, dass zwei dieser Hochschulen ein gemeinsames Studienprogramm gestartet haben, ist ein klares Signal, dass wir damit begonnen haben, die von Prof. Claus erwähnten Grenzen einzureißen.
Internationales Management (IM) ist ein exklusives Studienprogramm von TU Liberec und TU Dresden, das sich auf Managementthemen im internationalen Umfeld fokussiert. Zugleich stellt die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zweier Universitäten auch an sich schon ein IM-Projekt dar! Wir lehren die Studierenden, internationale Unternehmen zu managen, zugleich erleben sie einige Problemfelder internationalen Managements am Beispiel der Koordination des Studienprogramms. So wird das learning by doing zum zusätzlichen Mitnahmegewinn des Studiums.
IHI Newsletter: Der Start im auslaufenden Studienjahr fand ja unter besonderen Umständen statt. Aber auch ganz allgemein ist ein solches Vorhaben eine Herausforderung – es treffen unterschiedliche Rechtssysteme, unterschiedliche Vorstellungen und „Kulturen“ universitärer Praxis wie z. B. Prüfungs- und Lehrformate aufeinander. Können Sie über ein paar Erfahrungen des vergangenen Jahres berichten?
TC: Alle, die daran mitwirken, haben mit dem Studienprogramm absolutes Neuland betreten. Es wäre naiv zu glauben, dass derartige Programme ohne Schwierigkeiten anlaufen. Im Vorfeld haben wir selbstverständlich versucht, alle Eventualitäten abzuklären. Aber innerhalb der eigenen Kultur kommen einem viele mögliche Probleme gar nicht in den Sinn - und wenn sie dann eintreten, ist es schwer, sie überhaupt als strukturelle Probleme kultureller Differenzen wahrzunehmen und sie nicht als "eigenartige Zumutungen" der anderen Seite fehlzuinterpretieren. Ein Beispiel hierfür: Nach Prüfungsordnung der TU Liberec haben die Studierenden ein Recht darauf, ihre Noten binnen fünf Tagen nach jeder Art von Prüfung zu erfahren, während unsere PO lediglich für Klausuren festlegt, diese SOLLTEN binnen vier Wochen korrigiert sein. Ein Prüfungsamt hat hier wenig Einfluss auf die Professoren, und so geraten unsere armen Mitarbeiterinnen vom Prüfungsamt zwischen die Fronten von "ungeduldigen" tschechischen Studierenden und derartigen Erwartungsdruck schlichtweg nicht gewohnten deutschen Professor:innen. Sie können sich das Ergebnis vorstellen... Was wir daraus lernen müssen, ist, dass interkulturelle Kooperationen nur dann funktionieren, wenn es allen Beteiligten gelingt, sich in einem gewissen Maße in die Lage des Anderen versetzen zu können und seine Sichtweise zu verstehen. Für Studierende, die solche interkulturellen Lernfortschritte nicht über eine jahrelange Kooperation hinweg machen können, sondern in den wenigen Semestern ihres Masterstudiums mit zwei Regelwerken und zwei akademischen Kulturen konfrontiert sind, ist das natürlich herausfordernd. Langfristig kann nur eine gewisse europäische Harmonisierung der Regelungen zum Funktionieren solcher Programme führen. Was wir aber in der Zwischenzeit tun können, ist, eine gemeinsame positive Haltung der Beteiligten in Lehre und Verwaltung entstehen zu lassen - und daran arbeiten wir. Trotz allem können wir von einem erfolgreichen Start sprechen.
AK: Da wir Schwierigkeiten erwartet hatten, haben wir sowohl Studierende als auch akademische und Verwaltungsmitarbeiter:innen gleich vorab um Geduld und Verständnis genbeten. Man muss ja wissen, dass der Studiengang durch die Nähe seiner "Campi" einzigartig ist und die Studierenden die eine Wochenhälfte eher in Liberec, die andere eher in Zittau studieren sollen. Das konnte natürlich aufgrund der Corona-Pandemie bislang nicht geschehen. Zugleich hat uns Corona vieles gelehrt: Wir sind jetzt die Nutzung von virtuellen Kommunikationsformaten und Lehrplattformen wie Google Meet, Zoom oder MS Teams gewohnt und ich bin überzeugt, viele unter uns haben die Vorteile davon schätzen gelernt. Zugleich ist uns der Wert persönlicher Begegnungen und von Diskussionen "von Angesicht zu Angesicht" deutlich geworden - gerade, indem diese sich als nicht selbstverständlich gezeigt haben. Wir alle lernen gerade so einiges nebenbei - und entdecken darin hinterher einen Fortschritt. Ich bin sehr neugierig darauf, ob das gemeinsame Programm im kommenden akademischen Jahr von diesen Erfahrungen profitiert und noch besser läuft.
IHI Newsletter: Welches sind die weitere Schritte des ACC-Präsidenten Claus?
TC: Am Ende meiner Amtszeit möchte ich, dass die Hochschulen der Euroregion intensiver kooperieren als heute. Jeder Schritt, der uns diesem Ziel näherbringt, ist wichtig. Zunächst müssen wir aber miteinander sprechen und eine gemeinsame Vision entwickeln. Meine Vision muss nicht zwangsläufig die Vision der Partner sein.
IHI Newsletter: Wir danken für das Gespräch.