Myrte: Lebendige Erinnerung
Viele Hochkulturen des Altertums schrieben der Myrte (Myrtus communis L.) eine besondere, meist positive Bedeutung zu. In der griechisch-römischen Mythologie galt sie als Pflanze der Göttin der Liebe und Schönheit. Hochzeitspaare trugen daher Myrtenkränze. In manchen Ländern hat sich bis heute der Brauch erhalten, die Hochzeitstafel mit Myrte zu schmücken. Nach einer arabischen Legende soll Adam als Andenken an das verlorene Glück einen Myrtenzweig aus dem Paradies mitgenommen haben.
Die Myrte ist eine von vier Pflanzen, die die Juden am ersten Tag des Laubhüttenfestes (Sukkot) sammeln: „ [...] nehmt schöne Baumfrüchte, Palmwedel, Zweige von dicht belaubten Bäumen und von Bachweiden, und seid sieben Tage lang vor dem Herrn, eurem Gott, fröhlich!“ (Lev 23,40). Bis heute ist es Tradition, am Sukkot-Fest einen Feststrauß (Lulav) aus Etrog (einer Zitrusart), dem Blatt der Dattelpalme, Myrte und Weidenzweigen zu binden.
Das Laubhüttenfest gehört zu den drei wichtigen Festen Israels. Es galt ursprünglich dem Erntedank nach Abschluss der Wein-, Obst- und Olivenernte im Herbst. Gemeinhin gehen Historiker davon aus, dass die Laubhütten in der Erntezeit auf dem Feld Schutz vor der Mittagshitze boten und die Feldarbeiter dort auch übernachten konnten. Im Laufe der Jahrhunderte erweiterte sich das Erntefest zu einem Fest, das die gemeinsame Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel erzählt. Schon das Buch Levitikus bringt das Laubhüttenfest in Verbindung mit der Wanderung der Israeliten durch die Wüste. Es fordert, zur Festzeit in Laubhütten zu wohnen, denn „in Laubhütten wohnten die Israeliten während ihres Auszuges aus dem Lande Ägypten“ (Lev 23,43). Die jährliche Feier der Befreiung des Volkes Israel und der Wanderung durch die Wüste hält die Erinnerung an das Heilgeschehen lebendig.
Die Verkündigung des Propheten Sacharja sieht im Laubhüttenfest ein Fest, das Gottes Königtum preist, wenn er endgültig alle bösen Mächte niedergerungen hat: „Doch wer übrigbleibt von allen Völkern, die gegen Jerusalem gezogen sind, wird Jahr für Jahr hinaufziehen, um den König, den Herrn der Heere, anzubeten und das Laubhüttenfest zu feiern.“ (Sach 14,16).
In der Hoffnungsvision des Propheten Jesaja ist die Myrte ein Zeichen der Heilszeit: „Statt Dornen wachsen Zypressen, statt Brennnesseln Myrten. Das geschieht zum Ruhm des Herrn als ein ewiges Zeichen, das niemals getilgt wird.“ (Jes 55,13). Nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier 587 v. Chr. ließ die sich verändernde politische Situation Mitte des 6. Jh. v. Chr. die Hoffnung keimen, Jerusalem wieder aufbauen zu können. Statt Pflanzen der Verwüstung und Beschwernis (vgl. Gen 3,18) gedeihen als „neues Israel“ Pflanzen der Dauer in einer Zeit des Friedens.
Text der Informationstafel im Botanischen Garten, © Professur für Biblische Theologie (katholisch) und Dr. Barbara Ditsch