Schilf: Schwäche und Zerbrechlichkeit
Schilfrohr (Phragmites australis (CAV.) TRIN. ex STEUD.) wächst in Palästina entlang des Jordans und an den Ufern des Sees Genezareth.
Herodes Antipas (ca. 20 v. Chr. bis 39 n. Chr.) herrschte zur Zeit Jesu im Norden Israels, wo auch Nichtjuden lebten. Als er am See Genezareth die Stadt Tiberias gründete, wählte er auf den zu diesem Anlass geprägten Münzen das Motiv des Schilfrohrs: Um als frommer Jude zu erscheinen, mied er die Darstellung von Tieren und Menschen, die das alttestamentlich-jüdische Gesetz verbot (Dtn 4,16-18).
Schilf diente in der Antike als Material für den Hausbau, man fertigte daraus Körbe, Siebe, Matten, Schreibfedern und viele andere Dinge. Das hebräische Wort qaneh bedeutet Schilfrohr, aber auch Messrute oder Maßstab. Als griechisches kanon steht es im übertragenen Sinn für eine besondere Regel oder Vorschrift. Auch die allgemein anerkannte, verbindliche Sammlung der „Bücher“ (griech. biblia) der Heiligen Schrift wird Kanon genannt.
Schilfrohr ist spröde und kann leicht brechen. Der Bibel dient es daher als Metapher für (Wort-)Brüchigkeit und Schwäche. Als die Assyrer Jerusalem belagerten (ca. 700 v. Chr.), warnte der Heerführer König Hiskija: „Du vertraust gewiss auf Ägypten, dieses geknickte Schilfrohr, das jeden, der sich darauf stützt, in die Hand sticht und sie durchbohrt. Denn so macht es der Pharao, der König von Ägypten, mit allen, die ihm vertrauen.“ (Jes 36,6).
Um 587 v. Chr. eroberte der babylonische Herrscher Nebukadnezzar II. Jerusalem. Er zerstörte die Stadt und siedelte die besiegten jüdischen Führer zwangsweise nach Babylon um. Hatte Gott sein Volk verlassen? Durfte man auf eine Heimkehrhoffen? Frömmigkeit und Theologie suchten nach Erklärungen und besseren Perspektiven für die Zukunft. Die Sehnsucht nach einem erneuten Eingreifen Gottes in die Geschichte durch eine Rettergestalt kam auf. Der Prophet Jesaja spricht von diesem vom Geist Gottes erfüllten Erlöser: „Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den glimmenden Docht löscht er nicht aus; ja, er bringt wirklich das Recht. Ich, der Herr, habe dich dazu bestimmt, blinde Augen zu öffnen, Gefangene aus dem Kerker zu holen und alle, die im Dunkel sitzen, aus ihrer Haft zu befreien.“ (Jes 42,1.3.6). Der Evangelist Matthäus bezieht diese prophetischen Worte auf Jesus (Mt 12,15-21).
Das Schwanken des Schilfrohrs im Wind versinnbildlicht die Anpassung an sich ändernde Lebensumstände. Das Neue Testament sieht darin den negativen Zug der Wankelmütigkeit (vgl. Mt 11,7). Die rabbinische Literatur wertet dies dagegen als eine kluge Fähigkeit.
Text der Informationstafel im Botanischen Garten, © Professur für Biblische Theologie (katholisch) und Dr. Barbara Ditsch