TUD-Sylber-Einzelvorhaben: Unterrichtsvideos zur Entwicklung hermeneutischer Fallkompetenz in der Lehrerbildung
Hintergrund
Professionelles Handeln von Lehrerinnen und Lehrern lässt sich an der Fähigkeit festmachen, fachwissenschaftliche, didaktische und bildungswissenschaftliche Kenntnisse unter Berücksichtigung der konkreten Unterrichtssituation miteinander zu verschränken (Helsper 2016, Combe/Kolbe 2008). Voraussetzung für dieses hermeneutische Fallverstehen ist es, Unterrichtssituationen mehrperspektivisch zu deuten und theoriegeleitet zu hinterfragen.
Auch wenn in der ersten Phase der Lehrerbildung die Aneignung disziplinären Wissens im Vordergrund steht, ist es unerlässlich die „zweite Seite“ des professionellen Handelns, die Verschränkung des Wissens mit dem Einzelfall, schon am Beginn des Studiums einzuüben. Dafür müssen hochschuldidaktische Formate geschaffen werden, die pädagogisches Handeln erfahrbar machen. In realen Unterrichtsvideos zeigt sich pädagogisches Handeln in seiner Komplexität und Deutungsoffenheit. Über dieses Medium kann daher ein reflexiver Zugang zum vielfach geforderten Handlungsbezug hergestellt werden, ohne sich affirmativ an die Anforderungen der Schulpraxis anzulehnen oder einer reinen Abbildungslogik zu verfallen (vgl. Hummrich 2016, S. 25 f.).
Videoaufnahmen dieser Art wurden in der Lehrerbildung an der TU Dresden bisher nicht gezielt eingesetzt. Es fehlen valide Instrumente, mit denen hermeneutische Fallkompetenz nachgezeichnet und Entwicklungsverläufe im Studium abgebildet werden können. Zudem liegen keine Erkenntnisse dazu vor, welche Qualität der hermeneutischen Fallkompetenz in welchem Studienabschnitt erreicht werden kann und wie Entwicklungsverläufe transparent gemacht werden können.
Zurzeit wird ein hochschuldidaktisches Konzept zur Entwicklung hermeneutischer Fallkompetenz für die berufsbildendende Fachrichtung Gesundheit und Pflege und in den allgemeinbildenden Fächern Französisch, Spanisch und Italienisch erprobt.
Ziele
Der Einsatz von Unterrichtsvideos soll zu einer Stärkung des Praxisbezugs in der universitären Lehrerbildung beitragen und die systematische Herausbildung eines professionellen Lehrerhabitus fördern. Konkret werden mit dem Einsatz der Videos folgende Zielsetzungen verfolgt:
- Reflexion über die Komplexität unterrichtlicher Prozesse
- Bewusstwerden des Unplanbaren, der Ungewissheit in Lehr-Lernsituationen
- Erweiterung der Subjektiven Theorien über Unterrichtsprozesse
- Förderung von Flexibilität im Nachdenken über alternative didaktische Handlungsmöglichkeiten
- Ausdeutung des Unterrichtsgeschehens im Kontext didaktischer Zugänge
Mittels empirischer Erhebungen fallbezogener Deutungskompetenz soll eine wesentliche Forschungslücke geschlossen werden. Die Analyse hermeneutischer Fallkompetenz stellt eine notwendige Ergänzung der verbreiteten Testinstrumente zur Messung von Professionswissen von Lehrkräften und Lehramtsstudierenden dar.
Aktueller Stand des Vorhabens
In den letzten zwei Jahren sind über 30 Unterrichtsvideos entstanden, die wir an zwei Gymnasien und vier Schulen des Gesundheitswesens aufnehmen konnten. Die Filme zeigen beispielsweise Unterrichtseinstiege, komplexe Lernarrangements oder knifflige Unterrichtssituationen. Um einen möglichst breiten Zugang zum Geschehen zu bekommen, wurden auch Unterrichtsmaterialien, wie Tafelbilder und Aufgabenstellungen, Produkte der Lernenden und nachträgliche Reflexionen der Lehrenden zu ihrem Unterricht erhoben. Seit dem Wintersemester 2016/17 werden die Unterrichtsvideos kontinuierlich in didaktischen Seminaren eingesetzt. Die Deutungen der Studierenden werden entweder als schriftliche Reflexion oder als Audioaufzeichnung erhoben. Zudem werden die Lehrveranstaltungen evaluiert.
Hochschuldidaktisches Konzept und Stand der Begleitforschung
Vor dem ersten Einsatz im Seminar werden die Videos im Forschungsteam rekonstruiert und disziplinäre Zugänge zu den zentralen Phänomenen der Unterrichtssituation zusammengetragen. Die Bearbeitung im Seminar dient zunächst der offenen Deutung der gezeigten Situation.
In einem zweiten Schritt erfolgt die Verschränkung des Falls mit spezifischen disziplinärem Wissen. Durch die „Brille der Theorie“ kann eine Handlungssituation in neuem Licht erscheinen, Handlungsroutinen können hinterfragt und Situationen der Berufspraxis in ihren jeweiligen Besonderheiten auf neue Weise erschlossen werden. Ob es zu solchen neuen Perspektiven auf die gezeigte Unterrichtssituation gekommen ist, wird abschließend diskutiert.
Erste Ergebnisse der Begleitforschung zeigen, dass Unterrichtsvideos eine gute Grundlage für die diskursive Erschließung von pädagogischem Handeln bilden (Altmeppen 2018). Offenheit, Komplexität und Widersprüchlichkeit von Unterricht kommt in den Blick und lässt sich theoriegeleitet deuten. Am konkreten Fall können Subjektive Theorien, bspw. über gelungenen Unterricht, hinterfragt und ggf. erweitert werden.
Verwendete Literatur:
Combe, Arno; Kolbe, Fritz-Ulrich (2008): Lehrerprofessionalität: Wissen, Können, Handeln. In: Helsper, Werner; Böhme, Jeanette (Hg.): Handbuch der Schulforschung. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS. S. 857-875.
Helsper, Werner (2016): Antinomien und Paradoxien im professionellen Handeln. In: Dick, Michael; Marotzki, Winfried; Mieg, Harald A. (Hg.): Handbuch Professionsentwicklung. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, S. 50-62.
Hummrich, Merle (2016): Was ist der Fall? Zur Kasuistik in der Erziehungswissenschaft. In: Hummrich, Merle; Hebenstreit, Astrid; Hinrichsen, Merle; Meier, Michael (Hg.): Was ist der Fall? Kasuistik und das Verstehen pädagogischen Handelns. Wiesbaden: Springer VS. S. 13-38
Publikationen (Auswahl)
- Ertl-Schmuck, Roswitha; Altmeppen, Sandra (2018): Wie kann hermeneutische Fallkompetenz gelingen? Portfolioarbeit in der Lehrer/innenbildung für Gesundheit und Pflege. In: PADUA, S. 33-39.
- Altmeppen, Sandra (2018): Fallarbeit in der Lehrer/innenbildung – Anbahnung hermeneutischer Fallkompetenz mittels authentischer Unterrichtsvideos. In: Ertl-Schmuck, Roswitha; Hänel, Jonas: Passagen pflegedidaktischer Arbeit an der Schnittstelle von Hochschule und Schulpraxis. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 149-167.
- Ertl-Schmuck, Roswitha (2018): Das Theorie-Praxis-Verständnis als produktive Irritation. In: Ertl-Schmuck, Roswitha; Hänel, Jonas: Passagen pflegedidaktischer Arbeit an der Schnittstelle von Hochschule und Schulpraxis. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 12-28.
- Bechtel, Mark; Christoph Oliver Mayer (2018): Fremdsprachendidaktische Reflexionskompetenz fördern anhand von Fremdvideos. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 48.1.: im Erscheinen.
Leitung
Prof. Dr. Roswitha Ertl-Schmuck
Professur für Gesundheit und Pflege/Berufliche Didaktik
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Sandra Altmeppen
PD Dr. Christoph O. Mayer
Assoziiert
Prof. Dr. Mark Bechtel, Universität Osnabrück